Es herrscht reger Betrieb an diesem Morgen auf dem Pears Jüdischen Campus in Berlin-Wilmersdorf. Eltern bringen ihre Kinder in die Kita, Schüler schlendern durch die Eingangstür, berühren kurz die mit einer Gebetsrolle gefüllte Mesusa – eine Schriftkapsel am Türpfosten – und eilen dann in ihre Klassenzimmer.
Und doch ist auf dem im Sommer eröffneten Campus vieles anders als an anderen Schulen. Zur Straße ist das Gebäude mit einer Mauer gesichert, das Drehkreuz lässt sich nur mit Chipkarten öffnen. Besucher müssen durch die Sicherheitsschleuse, der Polizeischutz ist hier ohnehin obligatorisch.
Diese Sicherheitsmaßnahmen gab es auch schon vor dem Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel. Seit dem 7. Oktober sind weitere Vorsichtsmaßnahmen hinzugekommen, die Schulleiterin Heike Michalak nicht öffentlich kommunizieren will, um ihre Schüler nicht zu gefährden. „In den ersten Tagen nach dem Angriff haben viele Familien ihre Kinder zu Hause gelassen, weil sie Angst hatten, sie hier über die Straße zu bringen“, sagt Michalak. Inzwischen besucht der Großteil der rund 190 Grundschüler und Gymnasiasten wieder den Unterricht.
Aber die Angst vor Übergriffen und die Sorge um Freunde sowie Verwandte in Israel sind seither ständige Begleiter. Nicht nur, weil inzwischen auch Kinder von zehn aus Israel geflüchteten Familien die Schule besuchen und Anti-Terror-Übungen inzwischen zum Alltag gehören. „Hier sind Lebenskonzepte komplett auf den Kopf gestellt worden. Dem gilt es jetzt zu begegnen“, sagt Michalak.
An diesem Morgen haben sie und der Campus-Vorsitzende Rabbiner Yehuda Teichtal Besuch von Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU). Unmittelbar nach den Anschlägen hatte Günther-Wünsch bereits ein Schreiben an alle öffentlichen Schulen geschickt, in dem sie den Schulleitern Handlungsanweisungen gegeben hatte, wie sie bei antisemitischen Provokationen, Bedrohungen und Ausschreitungen reagieren können.
Nach den Herbstferien folgte ein fast 40-seitiges Schreiben der Bildungsverwaltung mit Materialsammlung, Fortbildungsangeboten und praktischen Beispielen, wie die Nahost-Problematik im Unterricht behandelt werden kann. „Sie haben sich von Anfang an sehr deutlich positioniert, dass es keine Toleranz für Intoleranz in den Berliner Schulen geben darf“, sagt Teichtal. „Viele zeigen Anteilnahme. Sie zeigen Taten.“ Dafür sei die Jüdische Gemeinde sehr dankbar.
„Ich kann nur erahnen, was Sie in den letzten Wochen hier leisten mussten, welchen Ängsten und Herausforderungen Sie begegnen müssen“, sagt die Bildungssenatorin beim Gespräch mit Lehrkräften der Schule. Aber auch in Schulen mit einem hohen Anteil palästinensischstämmiger Schüler hätten Lehrkräfte einen schweren Stand. Sie würden mit vielen Emotionen konfrontiert, mit Hass, teilweise gar Drohungen. „Es braucht viel Haltung und innere Stärke, hier gegenzuhalten.“
Dennoch sei es wichtig, im Austausch zu bleiben – und notfalls auch mal die Unterrichtsinhalte beiseitezuschieben, um mit den Kindern die Geschehnisse aufzuarbeiten. „Wir müssen die Kinder und Jugendlichen zusammenführen, damit die Generation den Hass nicht weiterträgt.“
„Es hat sich etwas verändert“
Ein schwieriges Unterfangen, wie die Grundschullehrerin Sarah Knüpfer erzählt. Angst und Unsicherheit prägten den Alltag, schon junge Kinder entwickelten inzwischen klare Feindbilder. „Ich fühle mich kaum fähig, das alles im Unterricht aufzufangen. Mir fehlen oft die Antworten – und es verhindert auch den Lernprozess.“
Die Familien stünden derzeit unter Dauerdruck, sagt auch Katia Novominski, Lehrerin für Mathematik und Naturwissenschaften. „Einerseits sind sie stolz auf ihr Jüdischsein und wollen dies auch zeigen. Anderseits werden Ängste und Stimmungen an die Kinder weitergegeben. Und über Social Media kommen fortwährend neue Bilder herein, die die Kinder und Jugendlichen stressen und verstören.“ Noch sei das Trauma des 7. Oktober nicht bearbeitet, sagt auch Hebräisch-Lehrer Ido Porat. Viele Schüler seien massiv verunsichert. „Es ist das klare Gefühl: Es hat sich etwas verändert.“
Was Schüler, Eltern und Lehrkräfte jetzt bräuchten, sei psychologische Unterstützung von außen, „am besten jemanden, der mit jüdischem Leben auch etwas anfangen kann, der Zugang zu unserer Lebenswelt hat“, sagt Rabbiner Teichmann. Die Senatorin verspricht Hilfe durch den schulpsychologischen Dienst. Aber sie gibt auch zu, dass Psychologen mit diesem Profil im Pool des Krisendienstes schwer zu finden seien. Sie verstehe den Wunsch, dass die Hilfe passgenau sein müsse, sagt Günther-Wünsch. „Wenn Sie jemanden haben, der die richtige Qualifikation hat, melden Sie sich.“ Für dieses Portfolio habe man in der laufenden Haushaltswirtschaft „noch Mittel gefunden“.
Teichmann greift den Vorstoß auf: „Im Hebräischen kennen wir das Wort Tacheles. Es ist toll, dass wir in diesem kurzen Gespräch etwas so Konkretes erreicht haben.“
Er führt die Senatorin dann noch durch die Schule. In der ersten Klasse beginnt der Rabbi mit den Kindern zu singen: „Hevenu shalom alechem“ – ein bekanntes jüdisches Volkslied. „Wir wollen Frieden für alle, wir wollen Frieden für die Welt.“ Es klingt wie ein frommer Wunsch.
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