Die deutsche Regierungskoalition muss nach einem Richterspruch aus Karlsruhe vorerst sämtliche Ausgaben kappen. Mit einem finanzpolitischen Kunstgriff soll die Blockade überwunden werden. Doch die Opposition kündigt Widerstand an.

Stecken in Finanzschwierigkeiten: Wirtschaftsminister Robert Habeck, Bundeskanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner (von links).
Es ist ein schwerer Schlag für die «Ampel»: Seit Montagabend darf die deutsche Regierungskoalition kein Geld mehr ausgeben. In einem Rundschreiben informierte Finanzminister Christian Lindner seine Kabinettskollegen darüber, dass er «mit sofortiger Wirkung» eine Ausgabensperre für den Haushalt des laufenden Jahres verfügt habe.
Lediglich «in besonderen Einzelfällen» und nach Freigabe durch das Finanzministerium dürfen jetzt noch Auszahlungen erfolgen. Ausgenommen von dieser Haushaltssperre sind allein Verfassungsorgane wie der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat und das Bundesverfassungsgericht.
Bestehende Verpflichtungen würden dabei weiterhin erfüllt, neue Verpflichtungen hingegen nicht eingegangen, hiess es aus dem Ministerium am Dienstag. Ziel der Massnahme, die für alle Ministerien und das Kanzleramt gelte, sei es, «weitere Vorbelastungen für künftige Haushaltsjahre zu vermeiden».
Der FDP-Politiker Lindner beugt sich damit einem Richterspruch des Verfassungsgerichts aus der vergangenen Woche. Die Richter befanden, dass ungenutzte Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro aus der Corona-Zeit nicht in einen Sonderfonds für Klimaprojekte übertragen werden können.
Das begründeten die Richter unter anderem damit, dass der Bund die Ausnahmeregel der Schuldenbremse nicht ausnutzen dürfe, um Kredite auf Vorrat anzuhäufen. Bereits kurz nach dem Urteil hatte Finanzminister Lindner deshalb weite Teile des Klima- und Transformationsfonds (KTF) gesperrt.
Habeck macht Opposition heftige Vorwürfe
Zwar urteilten die Richter im konkreten Fall nur über einen Vorgang, der das Haushaltsjahr 2021 betrifft. In der Ampelkoalition fürchtet man allerdings, dass sich das Urteil auch auf andere derartige Sondervermögen auswirken werde. Darunter ist auch der sogenannte Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF), der quasi mit Krediten auf Vorrat ausgestattet wurde.
Der Bund bewilligte im Jahr 2022 Kredite in Höhe von 200 Milliarden Euro, um die hohen Strom-, Gas- und Fernwärmepreise abzufedern. Das konnte er, weil die Schuldenbremse durch die Notlagen Corona und Ukraine-Krieg in diesem Jahr ausgesetzt war. Das Geld sollte aber nicht nur 2022, sondern auch 2023 und 2024 genutzt werden. Daher fürchtet Wirtschaftsminister Robert Habeck, dass auch der WSF wackelt.
Das könnte noch viel problematischer sein als die Klima-Milliarden, denn allein in diesem Jahr wurden nach Angaben aus dem Wirtschaftsministerium 67 Milliarden Euro an WSF-Krediten ausgezahlt. Rund 103 Milliarden Euro hätten nach den Plänen des Finanzministeriums ins kommende Jahr übertragen werden sollen.
Dass in diesem Jahr gewährte Hilfen zurückgezahlt werden müssen, ist unwahrscheinlich. Denn Bundesregierung und Bundestag haben die Energiepreisbremsen beschlossen – wie sie sie finanzieren, ist ihr Problem. Es ist aber denkbar, dass die Bundesregierung die Strom- und Gaspreisbremsen nun vorzeitig streicht.
Eigentlich sollten sie nämlich zur Absicherung auch im Frühjahr 2024 noch gelten, obwohl die Preise gegenwärtig nicht so hoch sind. Sollten die Energiepreise nun im Winter erneut anziehen, könnten sie nicht mehr staatlich gebremst werden. «Dann werden wir höhere Gas- und Strompreise und Fernwärmepreise haben», sagte Habeck warnend.
Ein Dankesschreiben dafür könnten die Bürger an die Unionsparteien richten, sagte Habeck weiter – ein Seitenhieb gegen CDU und CSU, die gegen die Sondervermögen geklagt hatten.
Koalition denkt über neue «Notlage» nach
Lindner hat die Ausgabensperre deshalb nun vorsorglich auch auf den laufenden Haushalt ausgeweitet. Mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Regierungskoalition: Im Finanzplan der «Ampel» für die kommenden Jahre klafft eine Lücke von mehr als 200 Milliarden Euro. Ob und wie diese geschlossen werden kann, soll in den kommenden Tagen diskutiert werden.
Eine mögliche Lösung wäre, dass die Bundesregierung nachträglich für das Jahr 2023 eine ausserordentliche Notlage erklärt. Über einen solchen Plan berichtete am Dienstag das «Handelsblatt». In diesem Fall liesse die Schuldenbremse eine höhere Verschuldung zu. Die «Ampel» würde damit aber eine neue Klage der Opposition riskieren. In der Bundestagsfraktion von CDU und CSU hält man ein solches Manöver ebenfalls für verfassungswidrig.
Der Staat habe kein Einnahmeproblem, es gebe somit auch keine akute Notlage, sondern nur fehlende Ausgabendisziplin der Ampel, sagte Gitta Connemann der NZZ am Dienstag. «Die Ansage aus Karlsruhe ist an Deutlichkeit nicht zu überbieten: Schluss mit den Taschenspielertricks. Die Ampel muss endlich wahre und klare Haushalte aufstellen. Statt alle Streitereien mit Schulden zu kitten, muss die Ampel solide wirtschaften.»
Auch der Ökonom Thiess Büttner von Universität Erlangen-Nürnberg warnte am Dienstag bei einer Anhörung im Bundestag vor diesem Kunstgriff: «Zwar ist die staatliche Finanzlage aufgrund der erforderlichen Anpassungen nun erheblich beeinträchtigt, es handelt sich aber keineswegs um eine Entwicklung, die sich der Kontrolle des Staates entzieht. Die Finanzpolitik selbst hat diese Entwicklung herbeigeführt.»
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