In sieben Bundesländern gab es Mittwochmorgen Polizeieinsätze in den Wohnungen von Klimaaktivisten. Am Nachmittag gingen Hunderte aus Protest auf die Straße.
Odd ANDERSEN/AFP
Aus der Ferne sieht es so aus, als hätten die Klimaaktivisten der Letzten Generation eine der größten Blockade-Aktionen in Berlin überhaupt gestartet: Auf der Straße des 17. Juni geht zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule gar nichts mehr. Aber der Protestzug der Letzten Generation steht nicht still, er bewegt sich nur sehr, sehr langsam. Wer näher hinschaut, sieht, dass der Protest das ist, was man einen „Slow March“ nennt – einen „langsamen Marsch“.
Auslöser für die Aktion waren die Polizei-Razzien vom Mittwochmorgen in sieben Bundesländern: Beamte stöberten in den Wohnungen von 17 Mitgliedern der Letzten Generation. In Bayern sprach man von Verdacht zur „Bildung einer kriminellen Vereinigung“. In Berlin war die Wohnung von Carla Hinrichs, Pressesprecherin und eine der bekanntesten Figuren der Letzten Generation, eine von vier Adressen, die durchsucht wurden.
Carla Hinrichs: „Ich habe Angst“
„Ich habe Angst davor, dass dieser Staat seine Beamt*innen in meine Wohnung stürmen lässt mit gezogener Waffe“, sagte Hinrichs am frühen Nachmittag in einer Video-Botschaft auf Twitter. „Aber so viel mehr Angst habe ich davor, dass er uns in diese Katastrophe rasen lässt und nichts dagegen tut.“ Als kurz nach 17 Uhr der Protestzug sich von der Siegessäule losbewegte, war sie mit dabei – lehnte aber eine Anfrage der Berliner Zeitung zu einem Gespräch ab; sie wollte lieber die Zeit mit Freunden verbringen, sagte sie.
Laut Ankündigung wollten sich die Demonstrationsteilnehmer solidarisch zeigen mit der Letzten Generation. Auch andere Klimaschutzgruppen, wie etwa Greenpeace und Extinction Rebellion, hatten den Aufruf zu der Kundgebung in Berlin geteilt; weitere Aktionen fanden etwa in Dresden, Hamburg und Hannover statt. Das sollte ein Zeichen der Unterstützung für Klimaaktivisten setzen, sowie auch gegen die Lobby für fossile Brennstoffe – „die offensichtlich gerade an Halt verliert“. Das zumindest behauptet Henning Jeschke, ein weiterer prominenter Aktivist der Letzten Generation, am Nachmittag auf der Plattform Twitter.
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So reagiert ein Autofahrer auf die Schneckentempo-Demo
Der Slow March schleicht sich derweil mit einer geschätzten Höchstgeschwindigkeit von einem Kilometer pro Stunde durch den Tiergarten, es könnte auch ein Trauermarsch sein. Einen ganz realen Effekt hat diese Aktion auf viele Menschen: Vincent Okula zum Beispiel muss die ganze Zeit warten. Der 59-Jährige war am sonnigen Nachmittag im Tiergarten spazieren; erst als er anschließend zurück zu seinem Auto kommt, bemerkt er die Schneckentempo-Demo.
Vincent Okula sagt, er habe nur ganz kurz über den Vorfall im Internet gelesen. „Man sagt, sie seien Kriminelle, angeblich gibt es dafür keine Beweise“, sagt er. Das Vorgehen der Polizei habe ihn aber trotzdem nicht überrascht. „Solche Gruppen, die Schwachen in der Gesellschaft, zu kriminalisieren, das wird oft so gemacht.“ Er schätzt die Letzte Generation auch als solche „Schwachen“ ein, denn sie hätten keine große Lobby oder politische Unterstützung.
„Sie sind eine Minderheit, aber versuchen trotzdem etwas zu ändern“, sagt Okula. „Das braucht viel Mut und Energie.“ Die Ereignisse von Mittwochmorgen ändern diese Perspektive nicht – aber es macht ihm schon Sorgen. „Das geht ja in eine ziemlich autoritäre Richtung, wo es darum geht, jemanden beliebig zu diskreditieren.“
Viele Demonstranten hoffen, dass sich nach den Razzien mehr Menschen wie Okula mit der Letzten Generation solidarisieren. Lisa Müller, die bisher kein Mitglied der Letzten Generation ist, nimmt aus Solidarität an der Demo teil. Es hätten mehr Menschen dabei sein können, sagt sie. Dass Autofahrer oft mit Aggression auf die Aktivisten reagieren, sei ein Zeichen dafür, dass ihre Botschaft in der Öffentlichkeit ankommt, sagt die 31-Jährige. „Viele zeigen jetzt, dass sie sich in ihrem Wohlstand angegriffen fühlen – genau das sind die Kämpfe, die wir führen müssen.“
Während die Kundgebung noch immer in Zeitlupe vorbeizieht, verteilen Ordner Flyer an die Passanten. Immer wieder kassieren sie auch abweisende Handbewegungen. Immerhin hat der Protest im Frühjahr 2023 dieses Bild erzeugt: Vor dem Kreisverkehr der Siegessäule geht nichts mehr. Dutzende Autos bleiben stehen, obwohl ihre Ampeln auf Grün stehen, und keine einzige Person ist weit und breit zu sehen, die irgendwo festklebt.
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