Noch vor 16 Monaten riefen AfD-Anhänger „Merkel muss weg“. Am Samstag skandierten rund 10.000 Teilnehmer einer Parteikundgebung in Berlin vor allem lautstark: „Habeck muss weg.“ Das zeigt zunächst, wie leicht es diesem politischen Milieu fällt, im kategorischen Widerstand gegen alle „Altparteien“ einfach die Namen auszutauschen – also von der früheren Bundeskanzlerin der CDU auf den heutigen Bundeswirtschaftsminister der Grünen umzuschwenken. Darüber hinaus ist aber auch ein thematischer Schwenk erkennbar. Und der ist für die AfD doppelt attraktiv.
Denn zum einen erfährt die Rechtsaußenpartei nach Jahren der Stagnation wieder vermehrt Zuspruch, seit die Wirtschaftspolitik mit Rezessionsängsten und enorm steigenden Energiepreisen die Debatten bestimmt: Die Umfragewerte der AfD, die die Krise vollständig der Ampel-Koalition anlastet, sind im Bund auf 14 bis 15 Prozent gestiegen, im Ostteil auf deutlich mehr. Sogar im notorischen Problembundesland der AfD, Niedersachsen, rangiert der zerstrittene Landesverband vor der heutigen Landtagswahl bei rund zehn Prozent. Entsprechend war das Motto der Berliner Demonstration („Energiesicherheit und Schutz vor Inflation, unser Land zuerst“) die Selbstanfeuerung einer Partei, die wieder ein Erfolgsthema gefunden zu haben scheint. Dabei lässt sich auch gewohnt polemisch agieren: Als „Auftragskiller an unserer Wirtschaft“ bezeichnete AfD-Vize Peter Boehringer Wirtschaftsminister Habeck.
Zum andern hat das aktuelle Thema Wirtschaftspolitik für die AfD den Vorteil, dass sie dabei auf den ersten Blick weniger extremistisch wirkt, als das während der Kanzlerschaft Merkels bei den Themen Migration, Klimaschutz und Corona der Fall gewesen ist. Damals wurden durch zahlreiche Fälle von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Wissenschaftsleugnung und Verschwörungsideologie die rechtsradikalen und teilweise rechtsextremen Tendenzen der Partei offenkundig.
Jetzt können sich AfD-Politiker allein als bloße Kritiker an der Wirtschaftspolitik gerieren und den Eindruck erwecken, sie seien rein sachorientiert. „Deutschland braucht eine Expertenregierung“, rief der andere AfD-Vize Stephan Brandner in Berlin den Demonstranten zu und stellte das Parteiprogramm als Masterplan für die Gesundung des Landes hin: „Stück für Stück muss das AfD-Programm durch Experten umgesetzt werden.“
Ebenso trat Berlins Landeschefin Kristin Brinker sachorientiert auf und konzentrierte sich aufs Finanzielle: „Wir sind heute alle hier, weil wir alle zur Kasse gebeten werden.“ Auch der Partei- und Bundestagsfraktionsvorsitzende Tino Chrupalla beschäftigte sich als Hauptredner – seine Doppelchefkollegin Alice Weidel hatte kurzfristig krankgemeldet – ausgiebig mit der Gaspreisbremse und dem deutschen Energiemix. Er griff besonders eine Partei an: „Vor allem die Grünen wollen, dass unser Land arm und schwach wird.“
Bei Chrupalla wurde aber doch auch deutlich, welche Ideologien den aktuellen Furor der Partei untergründig antreiben. So appellierte Chrupalla an das Bedürfnis, sich als Deutscher durch Wohlstand gegenüber anderen Völkern überlegen fühlen zu können. Er rief den Anwesenden zu: „Sie konnten für neun Euro Bahn fahren, damit wissen Sie, wie Bahnfahren in Indien ist.“
Vor allem aber ließ Chrupalla deutlich werden, wie gering er und seine Partei den Überlebens- und Freiheitskampf der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg schätzen, wie wichtig es für sie ist, sich mit dem Aggressor geschäftlich gemein zu machen. „Der Gaspreis wird wieder normal, wenn wir günstiges Gas aus Russland beziehen“, rief Chrupalla. Er forderte die Reparatur und Öffnung beider Nord-Stream-Pipelines und behauptete: „Habeck hat Russland den Wirtschaftskrieg erklärt. In Wirklichkeit führt er diesen Krieg gegen unser eigenes Land.“ Mit Blick auf die Ukraine wiederholte Chrupalla seine Formel vom Krieg, der „mehrere Väter“ habe. Er nannte dann aber keineswegs Putin, sondern neben dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auch den deutschen Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wegen dessen Twitter-Äußerung, dass man sich im Krieg mit Russland befände.
Und so waren denn auch zahlreiche Sympathiebekundungen von den Demonstranten zu sehen. Während Ukraine-Fahnen fehlten, wurden rund 20 russische geschwenkt. Ein Teilnehmer hatte sich gar eine symbolische Staatsverschmelzung genäht, eine Fahne, die zur Hälfte aus dem deutschen Schwarz-Rot-Gold und dem russischen Weiß-Blau-Rot besteht. „Ich will russisches Gas und Öl!“, stand auf einem Plakat.
Diese Haltungen waren von der AfD bereits am vergangenen Montag deutlich bedient worden. Da behauptete der Thüringer Landeschef Björn Höcke bei einer Kundgebung in Gera, „dass die Deutschen und die Russen eine ähnliche seelische Prägung“ hätten und die USA „mit ihrem primitiven Sendungsbewusstsein“ die Deutschen „in einen Krieg hineingetrieben hätten“.
So unverblümt ließ sich das bei der Demo in der Berlin offenbar nicht darstellen. Hier war auch die Zahl der Gegendemonstranten mit rund 1500 deutlich höher als in Gera. Zu Zwischenfällen kam es – auch wegen eines großen Polizeiaufgebots – bis zum Nachmittag nicht.
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