Mehrere Bundesländer melden eine Zunahme der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen und einen Anstieg der Gewalt. Das ergab eine Umfrage von WELT AM SONNTAG bei allen Ländern. Bei den registrierten politisch motivierten Straftaten handele es sich größtenteils um Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, Sachbeschädigungen, Beleidigungen und Volksverhetzung. Verstärkt gebe es auch Angriffe auf Polizisten und Journalisten. Eine bundesweite Zahl der Taten liegt bisher nicht vor.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz warnt davor, dass Rechtsextreme in Ostdeutschland ihren Einfluss auf die Proteste ausbauen: Gruppierungen wie die rechtsextreme Kleinstpartei Freie Sachsen seien „propagandistische Antreiber und inhaltliche Stichwortgeber“. Der virtuelle Raum – etwa der Messengerdienst Telegram – „wird zum wichtigsten Organisations- und Kommunikationstool“.
Dass sich an den Protesten „Rechtsextremisten und ‚Reichsbürger‘“ beteiligen, wird vielerorts beobachtet. Die aktuell zu verzeichnende Radikalisierung hat demnach kaum noch etwas mit den „Querdenken“-Protesten zu tun, die es bis zum Sommer gab.
So wies der baden-württembergische Verfassungsschutz darauf hin, dass sich „Querdenken 711“ zuletzt von Ausschreitungen distanzierte. Laut Thüringer Verfassungsschutz führen Extremisten die Proteste häufiger als früher an, wobei die Freien Sachsen als „Katalysator“ wirkten und Nachahmer fänden.
Sachsens Verfassungsschutzchef Dirk-Martin Christian bezeichnet die Freien Sachsen als etablierte „Mobilisierungsmaschine“. Über Messengerdienste werde überregional zu „Anti-Corona-Spaziergängen“ aufgerufen. Dabei würden dann Gewaltaufrufe, Hetzparolen und Mordaufrufe verbreitet.
In Sachsen-Anhalt konstatiert der Verfassungsschutz, dass ein „Großteil der virtuellen Gruppen der Corona-Leugner der ‚Reichsbürger‘-Szene oder der Neuen Rechten“ zuzuordnen ist.
Für Niedersachsens Verfassungsschutzpräsident Bernhard Witthaut birgt die „Entgrenzung und Vermischung von Rechtsextremisten und ‚Reichsbürgern‘ mit den Corona-Leugnern“ die Gefahr, „dass sich Teile der Anti-Corona-Bewegung am Gewaltverhalten der Extremisten orientieren“.
Auch der hessische Behördenchef Robert Schäfer sagt, Verschwörungsnarrative könnten als „Radikalisierungsbeschleuniger“ wirken. Man gehe davon aus, dass die Programmatik der Maßnahmengegner „auch für gewaltorientierte Akteure anschlussfähig ist“.
Mehrere Verfassungsschutzämter halten eine weitere Radikalisierung für wahrscheinlich: Impfgegner, Corona-Leugner, Politikverdrossene und Verlierer der Krise würden von Extremisten und Ideologen gezielt adressiert. Besonders Sachsen und Baden-Württemberg rechnen damit, dass die Einführung einer Impfpflicht die Radikalisierung von Impfgegnern weiter verstärken wird.
Unterdessen bekommt das Problem eine internationale Dimension. Die Regierung in Wien warnt vor einer Zusammenarbeit radikaler Impfgegner aus Österreich und Deutschland. „Wir sehen, dass die rechtsextreme Szene zwischen Deutschland und Österreich gut vernetzt ist. In der Corona-Pandemie arbeiten diese Staatsverweigerer aus Deutschland und Österreich eng zusammen“, sagte Österreichs Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) dieser Zeitung. „Diese extremen Antidemokraten formieren sich und versuchen grenzüberschreitend, die Stimmung unter den Impfgegnern auszunutzen und sie weiter anzuheizen.“ Das sei „gefährlich“.
Nehammer betonte, dass die Innenminister und Sicherheitsbehörden in dieser Frage eng zusammenarbeiteten: „Wir beobachten in ganz Europa, dass die Pandemie keine Staatsgrenzen kennt und auch die Radikalisierung der Impfgegner keine Staatsgrenzen kennt.“
Mit Blick auf den Messengerdienst Telegram fordert Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) nun eine Transparenzpflicht für Digitalplattformen und spricht sich für die Verwendung von Klarnamen aus. Konstantin von Notz, Fraktionsvize der Grünen im Bundestag, lehnt dies allerdings ab. Der Möglichkeit, so von Notz, Dienste auch anonym nutzen zu können, komme im Digitalen – gerade für Menschen, die von Hass und Hetze betroffen seien – eine wichtige Schutzfunktion zu.
Am Samstag gab es erneut Corona-Proteste in mehreren deutschen Städten, darunter Hamburg, Berlin und Schwerin. Die Versammlungen verliefen zunächst friedlich.
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