interview
Arbeitsminister Heil wirbt derzeit in Indien um Fachkräfte. Im tagesschau24-Interview zeigt er sich zuversichtlich, junge Menschen überzeugen zu können. Er appelliert aber auch an Wirtschaft und Gesellschaft.
tagesschau24: Die Kooperation mit Indien besteht schon länger, über das sogenannte "Triple Win"-Programm konnten Sie unter anderem auch schon Pflegekräfte nach Deutschland holen. Wie und womit konnten Sie die locken?
Hubertus Heil: Wir haben gute Argumente, für Deutschland zu werben. Denn klar ist, wir brauchen Fachkräftesicherung in Deutschland mit inländischen Potenzialen, dafür müssen wir alle Register ziehen. Wir brauchen aber ergänzend auch qualifizierte Zuwanderer. Wir haben jetzt ein modernes Einwanderungsgesetz geschaffen. Und ich habe heute mit jungen Leuten gesprochen, die in sehr unterschiedlichen Berufen in Deutschland arbeiten wollen. Da ist ein großes Potenzial, und da gibt es gute Verbindungen, denn Indien hat einen niedrigen Altersdurchschnitt. Der ist hier 28, bei uns in Deutschland ist er 49.
Es gibt viele junge Menschen, die hier keine Arbeit finden, aber die bei uns eine Chance sehen. Und da können wir das Nützliche, die Interessen Indiens und Deutschlands und die Interessen der jungen Leute, gut miteinander verbinden. Wenn wir sie fair behandeln, wenn wir gute Argumente haben, mit denen wir für Deutschland werben können.
tagesschau24: Ja, aber noch einmal die Frage: Was können Sie denen denn bieten, damit sie auch wirklich kommen?
Heil: Das Interessante ist, wenn man mit den jungen Leuten selbst spricht, warum sie sich für Deutschland entschieden haben. Ich habe einen jungen Mann erlebt, der gesagt hat, er will als Fleischer in Deutschland arbeiten, weil wir ein stabiles politisches System haben, weil es bei uns relativ wenig Kriminalität gibt. Ich habe eine junge Frau erlebt, die gesagt hat: Ihr habt ein gutes Ausbildungssystem, ihr habt Fachhochschulen. Die will übrigens in der Luftfahrtindustrie bei uns arbeiten. Ich habe jemand anders erlebt, der gesagt hat: Ich habe bewusst Deutsch gelernt, Kanada ist zwar auch ein spannendes Einwanderungsland, aber es ist geografisch weiter von uns entfernt.
Also bei allen Defiziten, die wir in Deutschland haben, können wir mit guten Gründen für unser Land werben. Wir sind eine starke Wirtschaft, wir haben ein gutes Ausbildungssystem, wir haben ein sicheres Land. Bei allen Nachteilen, die Deutschland auch hat - das Wetter ist nicht immer so toll, und unsere Sprache ist auf der Welt nicht so verbreitet wie beispielsweise das Englische -, gibt es durchaus junge Menschen, die wir gewinnen können mit guten Argumenten. Das Wichtigste ist jetzt eine Anwerbestrategie der deutschen Wirtschaft selbst. Und das Wichtigste ist, dass wir mit dem Einwanderungsgesetz die bürokratischen Hürden einreißen, die bisher dazu geführt haben, dass wir zu wenig helfende Hände und kluge Köpfe in der Welt, auch in Indien erreichen konnten.
tagesschau24: Was wollen Sie denn vielleicht selbst auch verändern, um Deutschland noch attraktiver zu machen?
Heil: Der erste Schritt ist gemacht. Mit dem modernen Einwanderungsgesetz, das jetzt vom Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde, reißen wir Bürokratie ein. Wir müssen aber noch schneller werden, auch in den Visaverfahren. Das klappt in Indien schon ganz gut, da dauert es für ein Arbeitsvisum, sagt mir die Botschaft, drei Wochen. Aber wenn jetzt mehr kommen, müssen die Kapazitäten da sein, müssen wir auch digitaler werden, um solche Verfahren zu beschleunigen.
Das Wichtigste für unsere Gesellschaft ist aber zu begreifen: Da kommen nicht nur Arbeitskräfte und Fachkräfte, es kommen Menschen, die müssen wir anständig behandeln. Und wir müssen, wenn sie länger bei uns sind, wenn sie Steuern zahlen und bei uns arbeiten, ihnen auch die Chance geben, Teil unserer Gesellschaft zu werden. Wir haben ja schon Erfahrungen in Deutschland, in Westdeutschland, mit der sogenannten Gastarbeitereinwanderung der 60er-Jahre. Wir dürfen die Fehler von damals nicht wiederholen. Damals hat der Lyriker Max Frisch gesagt, wir wollten Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen. Und das heißt für uns, wir müssen Integration erwarten und auch anbieten in unserer Gesellschaft. Dann wird das auch funktionieren.
tagesschau24: Aber das ist eben ein ganz entscheidender Punkt: Wie wollen Sie das denn sicherstellen? Wie wollen Sie tatsächlich an der Stelle auch die entsprechenden Voraussetzungen schaffen?
Heil: Eine Voraussetzung ist, dass wir alle begreifen in Deutschland, dass wir neben allen Anstrengungen im Inland - zum Beispiel durch bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen für deutsche Fachkräfte und bessere Aus- und Weiterbildung - ergänzend Fachkräfte-Einwanderung brauchen. Es muss das Bewusstsein in unserer Gesellschaft da sein, dass wir nicht irgendwie bürokratisch ein paar Akademiker gebrauchen können und hinnehmen müssen, dass es Einwanderung gibt. Sondern wir müssen ergänzend Einwanderung wollen. Die Zahlen sprechen dafür. Wenn wir nicht alle Register ziehen, dann fehlen uns bis 2035 sechs bis sieben Millionen Arbeits- und Fachkräfte. Einen Großteil müssen wir im Inland gewinnen durch Aus- und Weiterbildung, durch eine bessere Frauenerwerbsbeteiligung, auch durch Digitalisierung. Aber wir brauchen ergänzend qualifizierte Einwanderung. Das heißt, die Aufgeschlossenheit muss da sein.
tagesschau24: Jetzt haben Sie ein paar Berufe, die von Interesse sind, genannt. Aber in Deutschland fehlen eben in vielen Bereichen Fachkräfte. Für welche Branchen können Sie denn absehbar noch neue, qualifizierte Leute gewinnen?
Heil: Das gilt für alle Branchen. Es geht um IT-Fachkräfte, es geht auch um das Thema Pflege. Es geht aber auch um den Dienstleistungsbereich, die Gastronomie. Im Moment ist der Arbeits- und Fachkräftemangel deshalb in Deutschland ein Thema, weil wir eine gute Lage am Arbeitsmarkt haben. Es waren noch nie so viele Menschen in Arbeit, 46 Millionen Erwerbstätige. Aber wenn wir uns jetzt nicht kümmern um Fachkräftesicherung, wird das Problem größer, weil ab 2025 die geburtenstarken Jahrgänge, die vor 1964 Geborenen, die Babyboomer, in Rente gehen. Und das sind sehr starke Jahrgänge.
tagesschau24: Inwieweit lässt sich dann aber auch die Lücke schließen?
Heil: Vor allen Dingen müssen wir die inländischen Potenziale heben. Die haben wir auch noch. Ungefähr 1,6 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 haben in Deutschland keine abgeschlossene Berufsausbildung. Mir ist wichtig, dass wir mit dem Aus- und Weiterbildungsgesetz auch was fürs inländische Potenzial tun. Da ist viel, was schlummert. Ich habe vorhin gesagt Frauenerwerbsbeteiligung, das ist die größte Fachkräftemaßnahme, die wir in Deutschland im Potenzial haben. Wir müssen wirklich alle Register ziehen und brauchen dann ergänzend qualifizierte Zuwanderung.
Auch die Digitalisierung wird ja dazu führen, dass menschliche Arbeitskraft woanders eingesetzt werden kann. Das heißt, wir machen uns jetzt an diese große Aufgabe, und ich kann einfach nur sagen: Nichtstun ist keine Alternative. Wir kümmern uns mit dem Aus- und Weiterbildungsgesetz, mit einem Einwanderungsgesetz. Aber wir müssen als Gesellschaft insgesamt begreifen, wenn wir wirtschaftlich erfolgreich sein wollen, wenn Fachkräftemangel nicht zur dauerhaften Wachstumsbremse in Deutschland werden soll, dass man jetzt dringend alle Hebel ziehen muss.
Das gelingt nur gemeinsam zwischen Staat und Wirtschaft. Die Unternehmen haben ihren Part zu spielen, die Sozialpartner haben ihre Rolle, die Bundesregierung spielt ihre Rolle, damit das gelingt. Denn noch einmal: Keine große Aufgabe, die wir in unserer Gesellschaft haben, ob Wohnungsbau, Energiewende oder Pflege, können wir ohne Fachkräftesicherung hinbekommen. Deshalb ist es für Deutschland eine der größten Aufgaben, neben einer bezahlbaren und nachhaltigen Energieversorgung für unseren Wirtschaftsstandort dafür zu sorgen, dass wir eine ausreichende Fachkräftebasis haben - durch Maßnahmen im Inland und ergänzende qualifizierte Einwanderung, die wir jetzt organisieren werden.
Die Fragen stellte Kathrin Schlass. Das Interview wurde für die schriftliche Fassung gekürzt und redaktionell bearbeitet.
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