Stand: 26.10.2021 17:05 Uhr
Die Virologin Sandra Ciesek glaubt, dass in der Pandemie ein Gewohnheitseffekt eingetreten ist. In der neuen Folge des NDR Info Podcasts Coronavirus-Update spricht sie darüber, warum das jetzt im Herbst zum Problem werden kann.
Die Sieben-Tage-Inzidenz bei 113, die Hospitalisierungsrate bei 2,95 - die Zahlen, die das Robert Koch-Institut (RKI) derzeit täglich meldet, steigen rasant. Wer die Kurve für das Infektionsgeschehen im Herbst 2020 mit der aktuellen vergleicht, könnte meinen, dass er sich im Jahr verirrt hat. "Mir macht im Moment Sorge, dass der Anstieg der Neuinfektionen zusammenfällt mit einer schon sehr hohen Belegung auf Intensivstationen von derzeit ungefähr 1.600 Patienten, die zum großen Teil schon länger dort liegen", sagt die Leiterin der Medizinischen Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt. "Das führt dazu, dass wir im Vergleich zum letzten Jahr sogar schlechter dastehen." Die Zahl der mit Covid-19-Fällen belegten Betten auf den Intensivstationen wächst aktuell mit etwa 15 Prozent pro Woche, Tendenz steigend. Zugleich sehe man allerdings, so Ciesek, "dass im Vergleich zu vor einem Jahr deutlich weniger Patienten an der Infektion sterben, wenn sie geimpft sind".
Anstieg bei Älteren wirkt sich auf Kliniken aus
Besonders hoch ist das Infektionsgeschehen laut RKI derzeit bei den 5- bis 19-Jährigen. Die größten Wachstumsraten verzeichnen allerdings die Altersgruppen ab 50 Jahren. Diese machen laut aktuellen Erhebungen fast 80 Prozent der Covid-Fälle auf den Intensivstationen aus. Der steigende Inzidenzwert bei den Älteren hat also unmittelbar Auswirkungen auf die Belastung in Kliniken, vor allem auf Unikliniken, in denen Maximalversorgung bereitgestellt werden kann. Sollte die Quote der vollständig Geimpften in Deutschland auf ihrem aktuellen Niveau verharren (66,3 Prozent/Stand 26.10.2021), wäre laut Modellierung des RKI im Winter mit einem Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenz auf bis zu 400 pro 100.000 Einwohner zu rechnen. In diesem Fall, so hat es das Kieler Institut für Weltwirtschaft kürzlich errechnet, könnte die Behandlung von Covid-Patientinnen und -Patienten in Krankenhäusern 180 Millionen Euro pro Woche kosten.
Die Wahrnehmung der Pandemie und der Gewohnheitseffekt
Für Virologen und Intensivmediziner ein alarmierendes Signal, aber die Wahrnehmung der Pandemie in der Bevölkerung scheint den aktuellen Zahlen diametral gegenüberzustehen. "Ich habe das Gefühl, dass es im Moment nicht wirklich jemanden mehr interessiert, weil ein Gewohnheitseffekt eingetreten ist, man gewöhnt sich an diese Zahlen", sagt Ciesek. Was also tun?
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An erster Stelle steht für die Virologin weiter das Impfen, auch wenn es vermehrt, derzeit vor allem in der Altersgruppe ab 60 Jahre, zu Impfdurchbrüchen kommt. "Impfen reduziert das individuelle Risiko schwer zu erkranken für jeden", sagt sie. "Das Argument, nur weil ich nicht hundert Prozent Sicherheit oder Schutz bekomme, mache ich es gar nicht, finde ich ein ziemlich schlechtes Argument, weil man in der Medizin fast nie hundert Prozent erreicht." Zu einer sterilen Immunität führen Impfungen gegen das Coronavirus allerdings nur kurz. Nach ungefähr drei Monaten könne man sich wieder anstecken, gerade mit der Deltavariante. Als Geimpfter hat man selbst dann immer noch einen hohen Schutz gegen einen schweren Verlauf, aber man kann das Virus weiterverbreiten.
"Das Argument, nur weil ich nicht hundert Prozent Sicherheit oder Schutz bekomme, mache ich es gar nicht, finde ich ein ziemlich schlechtes Argument, weil man in der Medizin fast nie hundert Prozent erreicht." Sandra Ciesek über Corona-Impfungen
Beispiel Israel: "Booster"-Impfungen für alle möglich?
Auffrischungsimpfungen werden von der Ständigen Impfkommission (Stiko) derzeit vor allem Älteren und Risikopatienten empfohlen, aber auch medizinischem Personal und Pflegekräften wird geraten, sich nach etwa sechs Monaten "boostern" zu lassen. Dass möglicherweise bald alle Geimpften die Empfehlung zu einer weiteren Dosis bekommen, hält Ciesek für möglich: "Man sieht es an Israel. Die haben ihre vierte Welle durch eine Booster-Impfung der Gesamtbevölkerung gebrochen. Das wäre auch hier möglich. Es muss nur klar kommuniziert werden, dass der Eigennutz für junge Leute mit einer dritten Impfung nicht so hoch ist wie bei der initialen Impfung, sondern, dass es vor allem um ein gemeinschaftliches Blocken der Infektionsketten geht."
Das Problem mit 2G und 3G
Den Verlauf von Infektionsketten sollten auch alle im Auge behalten, die Veranstaltungen mit 2G- oder 3G-Regelung besuchen. "Das macht mir mit am meisten Bauchschmerzen im Moment, denn es vermittelt eine falsche Sicherheit", sagt Ciesek. So müsse ein negativ getesteter Nicht-Geimpfter immer darauf gefasst sein, dass er in Kontakt mit Geimpften kommen kann, die das Virus übertragen können. "Die veröffentlichten Daten zeigen, dass Geimpfte zwar weniger infektiös sind und auch kürzer, trotzdem ist es möglich, dass das passiert. Ich finde wichtig, dass den Leuten das bewusst ist, wenn sie jetzt wieder relativ normal leben."
Wieder Tests für alle in Kliniken und Pflegeheimen?
Vor diesem Hintergrund sollten auch in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtung die Hygieneregeln und die Vorsichtsmaßnahmen weiter streng gehandhabt werden. Man müsse überlegen, ob man Besucher dort nicht wieder standardmäßig testen lässt. "Das ist nicht gut, dass das Geld kostet", sagt Ciesek. "In Pflegeheimen sollten Tests liegen für jeden, der reinkommt. Niemand möchte, dass er seine Verwandten gefährdet." Sich auf die Impfung zu verlassen, wäre fatal: "Es geht um die Vernunft." (Liste empfohlener Antigen-Tests)
Ciesek: "Kommunikation zum Impfen sehr anonym und indirekt"
Mit Blick auf die stagnierende Impf-Kampagne bringt Ciesek die Möglichkeit einer persönlichen Ansprache ins Spiel: "In der Altersgruppe über 50 haben wir immer noch etwa eine Million Menschen, die nicht geimpft sind. Man sollte da noch mal versuchen, die direkt anzusprechen. Ich finde die Kommunikation zum Impfen bisher sehr anonym und sehr indirekt."
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So haben Forscher aus Mannheim, Friedrichshafen und Washington in einem Feldversuch mit Bürgerbriefen überprüft, welchen Erfolg diese Art der Motivation haben könnte. Eine Hälfte der Gruppe bekam Standardbriefe, die andere Hälfte Briefe mit einer direkten Ansprache. In dieser Gruppe wurden 40 Prozent mehr Impfungen verzeichnet als in der Vergleichsgruppe.
Neues Preprint zu Post-Covid aus Dresden
Vor allem Eltern, die trotz der Stiko-Empfehlung für eine Corona-Impfung ab zwölf Jahren noch Risiko und Nutzen für ihre Kinder abwägen, weist die Wissenschaftlerin auf ein neues Preprint zu Post-Covid-Symptomen unter anderem von der TU Dresden hin.
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Für dieses Paper wurden Krankenkassendaten von 38 Millionen Menschen, der Hälfte aller Versicherten in Deutschland, betrachtet, darunter fast 12.000 Minderjährige. Zwar stammen die Daten aus der ersten Welle und sie sagen nichts aus über die Dauer von Symptomen, weil die Patienten nur etwa drei Monate nachbeobachtet wurden. Aber, so Ciesek, dass das Risiko für Post-Covid da ist, zeige die Studie schon. Bei Erwachsenen waren bei den Symptomen Geschmacksstörungen Spitzenreiter, gefolgt von Fieber und Atembeschwerden. Bei Kindern und Jugendlichen eher Husten, Müdigkeit und Erschöpfung oder Unwohlsein.
"Es ist eine wichtige Studie auch für Entscheidung der Stiko, ob man auch Kindern unter zwölf Jahren die Impfung empfehlen wollte", sagt Ciesek. "Schön wäre, wenn man die Daten jetzt noch mal unter der Deltavariante erheben könnte und sie vergleichen würde mit einer anderen Infektion wie Influenza."
Hinweis: Die nächste reguläre Folge läuft am 9. November 2021.
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