In der Debatte um eine mögliche Lieferung weitreichender Marschflugkörper vom Typ Taurus an die Ukraine steigt der Druck auf Kanzler Olaf Scholz (SPD). Politiker aus den Regierungsparteien und der Opposition forderten in Berlin, den ukrainischen Streitkräften das für die Zerstörung von Bunkern und geschützten Gefechtsständen auf bis zu 500 Kilometern Entfernung geeignete Waffensystem zu überlassen. Das Verteidigungsministerium machte am Freitag auf Anfrage aber deutlich, es gebe keinen geänderten Kurs hin zu einer möglichen Abgabe. Eine Sprecherin sagte: "Eine politische Entscheidung zur Abgabe wurde nicht getroffen."
Medien: Entscheidung für Lieferung "in Kürze"
Der "Spiegel" berichtete, die Bundesregierung prüfe, wie Deutschland die Ukraine in den kommenden Monaten mit Taurus aus Beständen der Bundeswehr versorgen könne. Dazu liefen Gespräche zwischen dem Verteidigungsministerium und der Rüstungsindustrie. Das Nachrichtenportal "t-online" hatte am Donnerstag unter Berufung auf SPD-Kreise berichtet, die Regierung wolle "in Kürze" die Lieferung verkünden.
Limitierung für Ziel-Programmierung?
Laut "Spiegel" bat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) den Taurus-Hersteller, eine Limitierung für die Ziel-Programmierung in die Marschflugkörper zu integrieren. Demnach will Scholz die Lieferung erst genehmigen, wenn er von der technischen Modifikation überzeugt ist. Mit ihrer Reichweite von mehr als 500 Kilometern könnten die Marschflugkörper auch russisches Staatsgebiet erreichen. Die Ukraine hat allerdings zugesichert, westliche Waffen nicht für Angriffe auf russisches Gebiet einzusetzen.
Gefechtskopf durchschlägt auch Bunkeranlagen
Die Ukraine fordert von Berlin die Taurus-Marschflugkörper, um auch Stellungen russischer Streitkräfte weit hinter der Frontlinie angreifen zu können. Die Bundeswehr schreibt, der Taurus KEPD-350 ("Kinetic Energy Penetrator and Destroyer") werde zur Bekämpfung von wichtigen Zielen über große Entfernung verwendet. Der Luft-Boden-Lenkflugkörper wird von Flugzeugen aus gestartet und erreiche sein Ziel sehr zuverlässig, "auch bei gegnerischen Störmaßnahmen". Der Gefechtskopf durchschlage "selbst stark gehärtete Zielstrukturen, beispielsweise Bunkeranlagen oder Führungsgefechtsstände".
Pistorius: "Sind nicht die Einzigen, die nicht liefern"
Das Verteidigungsministerium verwies am Freitag auf letzte Äußerungen von Minister Boris Pistorius (SPD), wonach der Zeitpunkt für eine Entscheidung noch nicht gekommen sei. Pistorius hatte auch erklärt: "Wir sind nicht die Einzigen, die nicht liefern. Auch unsere amerikanischen Verbündeten liefern diese Marschflugkörper nicht."
SPD-Chefin Saskia Esken schloss eine Lieferung aber nicht aus. "Solche roten Linien haben wir als SPD noch in keiner Debatte um Waffenlieferungen gehabt. Es bleibt beim besonnenen Kurs, der sich eng an der Abstimmung mit unseren westlichen Partnern orientiert", sagte Esken der "Rheinischen Post". Allerdings haben Großbritannien und Frankreich bereits vergleichbare Waffen geliefert.
Strack-Zimmermann: Ukraine braucht Taurus "dringend"
Die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sprach sich energisch dafür aus. "Wir haben genug Taurus. Ein guter Teil ist sofort einsatzbereit. Die Ukraine braucht sie dringend. Und es wäre an der Zeit, grünes Licht zu geben", sagte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. Die Ukraine brauche die Taurus-Marschflugkörper, "um auf russischem Gebiet rein militärische Stellungen angreifen zu können, von denen ständig Angriffe auf die Ukraine ausgehen", erklärte die Verteidigungspolitikerin.
"Es ist völkerrechtskonform, wenn die Ukraine sich mit präzisen Schlägen auf diese Stellungen verteidigt." Daher müssten die Waffen mit voller Reichweite geliefert werden. "Ich glaube, das Problem sitzt erneut im Kanzleramt, wo man versucht, das Thema nicht hochploppen zu lassen. Ich finde es sehr ärgerlich, dass wir wieder eine Diskussion führen, die mich sehr an die Diskussion erinnert, Panzer zu liefern."
Wadephul warnt vor "weiterem Ampel-Theater"
Sicherheitspolitiker der Union forderten Scholz auf, Klarheit zu schaffen. In dieser Frage dürfe es kein "weiteres Ampel-Theater" geben, sagte Fraktionsvize Johann Wadephul (CDU) der Deutschen Presse-Agentur. "Für uns ist wichtig, dass eine Entscheidung zur Lieferung von Taurus-Flugkörpern gut abgewogen werden muss. Es muss klar sein, dass es keine Mitwirkung deutscher Soldaten geben darf und die Nachlieferung für die Luftwaffe gleichzeitig mit der Abgabe eingeleitet werden muss."
Der CSU-Verteidigungsexperte Florian Hahn erinnerte zudem an die Debatten in der Koalition um Panzerlieferungen an die Ukraine. Weder Scholz noch Pistorius hätten aus Fehlern gelernt. Der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt sagte: "Wenn die Ampel einen ukrainischen Sieg möchte, sollte sie die Lieferung unverzüglich veranlassen."
Russland-Experte hält Taurus-Lieferung für vertretbar
Nach Einschätzung des Russland-Experten Gerhard Mangott würde Deutschland durch die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern nicht zur Kriegspartei werden. Deutschland sei nach dem Völkerrecht befugt, der angegriffenen Ukraine zu helfen, sagte der Politikforscher von der Uni Innsbruck BR24. Eine Eskalation könne allerdings niemals ausgeschlossen werden. "Wir wissen nicht, wo die rote Linie Russlands verläuft", sagte Mangott.
Für Bundeskanzler Scholz wird es seiner Ansicht nach immer schwieriger, zu einer Lieferung "nein" zu sagen. Ein Kompromiss werde vermutlich sein, dass man die Taurus-Marschflugkörper liefere, aber deren Reichweite von aktuell bis zu 500 Kilometern beschränke. Die Frage sei, ob die Ukraine nicht aber in der Lage wäre, die Beschränkung durch eine Änderung der Software wieder aufzuheben.
Die ukrainische Gegenoffensive hat laut Mangott bislang keinen großen Geländegewinn gebracht. Die Verteidigungsanlagen der Russen seien sehr gut aufgebaut und gestaffelt. Allerdings sei es der Ukraine gelungen, auch mit Marschflugkörpern hinter den russischen Frontlinien etwa Treibstoffdepots und Kommandozentralen zu zerstören.
Mit Informationen von dpa, AFP und Reuters.
Im Video: Politikforscher Gerhard Mangott bei BR24.
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