Für die SPD ist es eines der Herzensthemen in den am Mittwoch beginnenden Koalitionsverhandlungen: die Überwindung von Hartz IV und die Einführung eines Bürgergeldes. Dieses solle „die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein“, heißt es im Sondierungspapier der Ampel-Koalitionäre.
Für die Empfänger soll es einfacher möglich werden, sich neben der Leistung etwas hinzuzuverdienen – und sie könnten künftig über mehr Schonvermögen verfügen dürfen. Die „Mitwirkungspflichten“ des Empfängers allerdings sollen erhalten bleiben. Was das genau bedeutet, wollen die Arbeitsgruppen von SPD, Grünen und FDP gemeinsam erarbeiten.
Aber schon jetzt legt die SPD die Latte hoch. „Das Bürgergeld muss auskömmlich sein, das ist klar“, sagte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken der „taz“. Basis der Berechnungen müssten die Lebenshaltungskosten sein – und die änderten sich, wie aktuell das Beispiel der Energiekosten zeige: „Die Sätze müssen auf die aktuelle Lohn- und Preisentwicklung Rücksicht nehmen.“
Eine konkrete Höhe der künftigen Regelsätze nannte die SPD-Chefin zwar nicht, um den Verhandlern nicht vorzugreifen. Doch die Ankündigung weckt die Erwartung, dass Grundsicherungsempfänger künftig deutlich mehr Geld in der Tasche haben könnten.
Grünen-Programm: mindestens 50 Euro mehr
Nur im Wahlprogramm der Grünen findet sich dazu allerdings eine konkrete Zahl: mindestens 50 Euro mehr. Derzeit ist eine Erhöhung der Regelsätze um 0,7 Prozent zum 1. Januar 2022 geplant; ein alleinstehender Erwachsener würde dann drei Euro mehr Hartz IV erhalten – rund 449 statt aktuell 446 Euro.
„Eine echte Reform braucht auch eine Neuberechnung und Erhöhung der Regelsätze“, forderte die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele. Vor allem für Gesundheitskosten wie Brillen und Medikamentenzuzahlungen reichten sie nicht aus. Auch die Stromkosten seien bisher nicht abgedeckt, sagte Bentele WELT.
„Bei korrekter Berechnung hätte schon bisher der Regelsatz über 600 Euro liegen müssen. Angesichts der rasant steigenden Preise für Lebensmittel und Energie ist hier eine schnelle Umsetzung der neuen Regierung notwendig.“ Eine Überwindung des alten Hartz-IV-Systems könne zudem „nur mit der Abschaffung der Sanktionen gelingen“.
Eine Forderung, die auch Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, erhebt. „Von einer wirklichen Überwindung von Hartz IV kann erst dann gesprochen werden, wenn die Sanktionen wegfallen und wenn die Regelsätze deutlich und letztlich bedarfsgerecht erhöht werden, sodass man damit auch über den Monat kommt“, sagte er.
Der Wille dazu lasse sich im Sondierungspapier noch nicht erkennen – dieses schließe es aber auch nicht aus. Schneider hält die derzeit geplante geringe Steigerung für „klar verfassungswidrig“: „Keine Koalition kann es sich erlauben, hier untätig zu bleiben.“
Positiv bewertete Schneider die angekündigte Reform der Zuverdienst-Regeln. Mit einem Grundsicherungssystem, das Anreize hin zum ersten Arbeitsmarkt schaffen will, sei die bisherige Regelung nur schwer in Einklang zu bringen.
„Aus unserer Sicht ist alles Einkommen, das oberhalb von 100 Euro liegt, ohne Deckel oder Stufen zu 20 Prozent einkommensfrei zu halten“, forderte Schneider. Für bessere Zuverdienstmöglichkeiten machen sich vor allem Grüne und FDP stark. „Sie bilden eine trittfeste Leiter, die aus Hartz IV herausführt“, heißt es im Wahlprogramm der Liberalen.
Die Linkspartei bewertet die Ankündigung verbesserter Zuverdienstmöglichkeiten hingegen kritisch. Diese seien „kein Ersatz dafür, die Regelbedarfe endlich existenzsichernd auszugestalten“, sagte die Bundestagsabgeordnete und Ex-Parteichefin Katja Kipping.
„Ein Großteil der Betroffenen kommt gar nicht in den Genuss solcher Zuverdienste.“ In ihren Augen bräuchte es eine deutliche Erhöhung der Leistung. „Wenn nur die offensichtlichsten Rechentricks wegfallen, müssten die Regelbedarfe bereits jetzt bei 658 Euro liegen“. Sanktionen sind für Kipping ein No-go. „Beim soziokulturellen Existenzminimum handelt es sich um ein Grundrecht und Grundrechte kürzt man nicht.“ Zudem treffe jede dritte Sanktion auch Haushalte mit Kindern.
Thomas Heilmann von der CDU hält die Forderung Eskens für „reichlich unscharf“. „Schon heute richten sich die Bedarfssätze nach den Lebenshaltungskosten“, sagte er. Einer Abschaffung von Sanktionen steht der Verwaltungsexperte skeptisch gegenüber. „Ein Ordnungsmechanismus ist wichtig – aus Fairness der arbeitenden Bevölkerung gegenüber und als Hilfe für die Betroffenen.“ Zwar müsse es sich für Sozialleistungsempfänger künftig mehr lohnen, etwas dazuzuverdienen. Es gelte aber weiterhin das Lohnabstandsgebot.
René Springer, sozialpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion, hält gar eine große Reform von Hartz IV für notwendig. „Der Steuerzahler, der die Sozialleistungen finanziert, erwartet, dass Pflichtverstöße auch sanktioniert werden“, sagte Springer. Es brauche zudem „stärkere Anreize für die Aufnahme einer Beschäftigung.“ Dazu gehörten vor allem „höhere Löhne und eine geringere Steuer- und Abgabenlast für kleine und mittlere Einkommen.“
Der Bund der Steuerzahler bewertet die Pläne hingegen positiv. „Soweit das Ampel-Sonderungspapier tatsächlich auf die Bündelung verschiedener Sozialleistungen abzielt, würde dies weniger Bürokratie auf allen Seiten bedeuten“, sagte Präsident Reiner Holznagel.
Zugleich müsse es mehr „chancenorientierte Elemente“ geben, damit Grundsicherungsempfänger mit Eigeninitiative schneller in Erwerbstätigkeit kommen. „Deshalb gehören auch Hinzuverdienstgrenzen und deren Anrechnung beim Bürgergeld neu justiert.“
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