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16 Jahre Merkel: „Gefährliche Überzeugung, alternativlos zu sein“ - WELT

Wenn am 26. September der 20. Deutsche Bundestag gewählt wird, tritt erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik kein Amtsinhaber als Kanzlerkandidat an. Die Amtszeit von Angela Merkel (CDU) wird nach rund 16 Jahren enden. Falls sich die Regierungsbildung bis zum 17. Dezember hinziehen sollte, würde Merkel sogar noch vor Helmut Kohl (CDU) landen in Sachen Rekord-Amtszeit.

Nun ist die Debatte um eine Amtszeitbegrenzung der Kanzlerschaft neu entbrannt, zuletzt durch Forderungen der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. „Es braucht eine andere Art des Führens“, sagte Baerbock dem „Spiegel“.

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Tatsächlich ist sie nicht die Erste, die sich vor einer möglichen eigenen Amtszeit für eine solche Begrenzung ausspricht. Auch Gerhard Schröder (SPD) hatte eine Höchstdauer 1998 vor und 1999 während seiner ersten Amtszeit angeregt. 2005 kandidierte er dann selbst für eine dritte Amtszeit – und vor der Bundestagswahl 2017 trat er wieder dafür ein, die Amtszeit nach US-Vorbild auf zwei Wahlperioden zu begrenzen.

Wie schon zuvor bei Konrad Adenauer (14 Jahre) und Helmut Kohl (16 Jahre) wird auch Merkel zum Ende ihrer Amtszeit Machtverliebtheit und Reformmüdigkeit vorgeworfen. Erkennen manche in langen Amtszeiten eher Stillstand, gilt anderen eine solch lange Kanzlerschaft als Zeichen von Stabilität.

Überdauert „Kohls Mädchen“ den Vorgänger am Ende im Amt? Foto vom September 2000
Überdauert „Kohls Mädchen“ den Vorgänger am Ende im Amt? Foto vom September 2000
Quelle: pa/dpa/Peer Grimm

Im Grundgesetz heißt es zur Kanzlerwahl: „Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt.“ Eine Regelung zu Wiederwahlmöglichkeiten findet sich dort nicht. Für eine Änderung bräuchte es die Stimmen von jeweils zwei Dritteln des Bundestags und des Bundesrats.

„Demokratie ist Herrschaft auf Zeit“

Der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart ist überzeugt, dass eine Begrenzung zu einer Belebung der Demokratie beitragen könnte und die Parteien sich dann programmatisch und personell immer wieder erneuern müssten.

„Demokratie ist Herrschaft auf Zeit und lebt vom Wechsel, der Alternative und der Begrenzung der Macht“, sagt Degenhart. „Wenn jemand immer wiedergewählt wird, bestärkt es ihn in der Überzeugung, dass er im Großen und Ganzen alles richtig macht und er als Person alternativlos ist. Das ist gefährlich.“

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Bereits im März 2019 war eine mögliche Amtszeitbegrenzung Thema im Bundestag. Im Grundgesetz sei es versäumt worden, die Machtfülle des Kanzlers mit einer Befristung zu versehen, hieß es in einem Gesetzentwurf der AfD, der von allen anderen Fraktionen abgelehnt wurde. Auch von einer „Monopolisierung der Macht“ war im Entwurf die Rede. In der anschließenden Beratung im Plenum wurde damals klar, dass es der AfD vor allem um das Umsetzen der Parole „Merkel muss weg“ ging.

Wie groß die Machtfülle des Kanzlers tatsächlich ist, ist in der Politikwissenschaft durchaus umstritten. War unter Adenauer aufgrund seiner Stellung als autoritäre Figur an der Spitze noch von einer Kanzlerdemokratie die Rede, galt dies später nur noch für einzelne Phasen von Amtsperioden.

Der Erste im Amt: Konrad Adenauer (CDU) war von 1949 bis 1963 Bundeskanzler
Der Erste im Amt: Konrad Adenauer (CDU) war von 1949 bis 1963 Bundeskanzler
Quelle: pa/Kurt Rohwedde/Kurt Rohwedder

Dann wurde das deutsche Regierungssystem eher als Koordinations- oder Koalitionsdemokratie analysiert, in dem der Kanzler vielmehr eine moderierende Funktion einnimmt und versucht, einen Interessenausgleich mit den Fraktionen und Parteien zu erarbeiten. Umstritten ist auch, ob insbesondere die späteren Kanzlerschaften Merkels wieder eher einer Kanzlerdemokratie zugerechnet werden können.

„Im Laufe der vergangenen Wahlperioden haben sich die Gewichte im System der Gewaltenteilung verlagert: Im Parlament hin zur Regierung, in der Regierung hin zum Kanzleramt“, sagt Staatsrechtler Degenhart. „Das Kanzleramt als eigentliches Machtzentrum der Republik entspricht nicht dem Geist des Grundgesetzes.“

Was gegen eine Begrenzung spricht

Der Freiburger Politikwissenschaftler Wolfgang Jäger hingegen hält das Amt des Bundeskanzlers in den Möglichkeiten der Politikgestaltung für völlig überschätzt. „Die Ära Merkel war eine Ära der Moderation. Tatsächliche Weichenstellungen wurden, wenn überhaupt, nur im Rahmen des Zeitgeistes vollzogen.“

Der Richter am baden-württembergischen Verfassungsgerichtshof ist überzeugt, dass eine Amtszeitbegrenzung der Kanzlerschaft systemwidrig wäre, da die Verantwortung für die Regierung im Parlament liegt. „Sie würde eine Entmündigung des Wählers und der Parteien bedeuten“, sagt Jäger.

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Er befürchtet, dass eine Begrenzung durch permanente Nachfolgediskussionen zu Chaos führen würde. „Die Regierungsstabilität war ein wesentliches Ziel der Mütter und Väter des Grundgesetzes und würde geopfert werden.“

Auch der Bonner Politologe Frank Decker befürchtet, dass der Kanzler in der zweiten und letzten Amtszeit zu einer „lame duck“ würde. Als solche „lahmen Enten“ gelten US-Präsidenten zum Ende ihrer zweiten Amtsperiode, die im dortigen politischen System nur einmal wiedergewählt werden dürfen und dann entsprechend an Einfluss verlieren. Tatsächlich gibt es eine Amtszeitbegrenzung in parlamentarischen Regierungssystemen bislang lediglich beim Staatsoberhaupt.

Decker analysiert, dass die Partei mit dem Vorschlag einer Begrenzung allein den Eindruck erwecken wollte, dass sie selbst bereit wären, Macht abzugeben. „Ich befürchte, dass der Vorschlag gar nicht ernst gemeint ist und man sich lediglich dem Publikum anbiedern will, das Politiker als machtversessen darstellt.“

Oder die Legislatur verlängern?

Unter den aktuellen Kanzlerkandidaten ist die Grüne Baerbock bislang die Einzige, die sich in die Debatte eingebracht hat. Auf WELT-Anfrage war weder von Armin Laschet (CDU) noch von Olaf Scholz (SPD) eine Stellungnahme zu bekommen.

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Quelle: WELT/ Isabell Finzel

Die Linkspartei-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow ist sicher, dass eine Befristung der Amtsdauer für den Kanzler „nicht demokratiefördernd“ wäre. Die Bevölkerung sollte weiterhin bei jeder Wahl die Entscheidung haben, welcher Partei sie ihre Stimme gibt und wen sie damit wie oft ins Kanzleramt schickt. „Wer anderes fordert, muss sich fragen lassen, ob er oder sie der Bevölkerung misstraut.“

Erst in der vorvergangenen Woche hatten die Koalitionsfraktionen die Einsetzung einer Wahlrechtskommission beschlossen. Diese soll sich insbesondere mit der Größe des Bundestags befassen, aber auch mit den Wiederwahlmöglichkeiten des Kanzlers und der Dauer der Legislaturperiode.

Eine Verlängerung der Wahlperiode gilt als deutlich wahrscheinlicher als eine Amtszeitbegrenzung der Kanzlerschaft. Zuletzt hatte sich auch die SPD-Chefin Saskia Esken dafür ausgesprochen. Befürworter hoffen auf ein beständigeres Arbeiten ohne ständigen Wahlkampf und Koalitionsverhandlungen.

Auch aus der CSU gibt es eine klare Aussage: „Eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre gibt einer Regierung mehr Zeit, mutige Maßnahmen durchzuführen und diese vermitteln zu können“, sagt der Fraktionsgeschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Stefan Müller, WELT. So werde Stabilität im politischen Betrieb erzeugt.

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Auch eine gleichzeitige Begrenzung der Amtszeit des Kanzlers auf zwei Legislaturperioden hält Müller für richtig: „Sie zwingt die Parteien, sich ständig zu erneuern und innovativ zu bleiben.“

Die Junge Union fordert bereits seit 2018 eine Beschränkung auf drei Perioden. Merkel argumentierte auf dem damaligen Deutschlandtag, dass dies in die Freiheit der Abgeordneten eingreifen würde. Die FDP hat sowohl eine Amtszeitbegrenzung für Bundeskanzler auf maximal zehn Jahre sowie eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre in ihren Programmentwurf für die kommende Bundestagswahl aufgenommen.

Linke-Chefin Hennig-Wellsow widerspricht: „Seltener wählen zu dürfen, würde für die Menschen bedeuten, weniger Einflussmöglichkeiten zu haben. Das ist das Gegenteil davon, was diese Gesellschaft braucht.“

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Mit Ausnahme der Bremer Bürgerschaft werden alle deutschen Landesparlamente mittlerweile nur alle fünf Jahre gewählt. Eine Verlängerung der Periode, gegen die sich die Bremer Bürger 2017 entschieden, ging dabei meist mit der Einführung von plebiszitären Elementen einher.

Aus verfassungsrechtlicher Sicht könnte man argumentieren, dass ein Ruf nach solchen Elementen auf Bundesebene umso mehr gerechtfertigt wäre, je länger die Legislaturperiode andauert. Das Grundgesetz beruht jedoch auf dem Repräsentationsprinzip, dass die Abgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes“ definiert.

Grüne und SPD sind mittlerweile von früheren Forderungen abgekommen, dass eine Verlängerung der Periode zu Volksentscheiden auf Bundesebene führen müsste. Die Grünen-Delegierten hatten etwa auf dem Parteitag im vergangenen November stattdessen knapp für sogenannte Bürgerräte votiert.

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