
Mit großen Augen schaut das Mädchen durchs Fenster. Der Kontrast zwischen ihr da draußen, in der Savanne des südwestlichen Madagaskars, und uns Touristen hier drinnen, in der klimatisierten Luft, könnte kaum größer sein. Denn das Mädchen will keine Süßigkeiten, wie die Kinder in der Hauptstadt. Es will auch keine Schulhefte oder Stifte, wie die Kinder in den Dörfern im Hochland. Es will Wasser. Der Bus hält nicht an, drosselt nur manchmal das Tempo. Dann reicht der Assistent des Fahrers eine zerbeulte PET-Flasche aus dem halbgeöffneten Fenster. Das Mädchen schnappt sie sich und läuft davon.
Wer in Madagaskar entlang der Route Nationale 7 (RN 7) in Richtung Küste fährt, wird immer wieder solche Szenen beobachten. Die Region ist so ausgetrocknet, dass manche Familien bis zu zwei Stunden am Tag mit der Beschaffung von Wasser beschäftigt sind. Wer direkt an der Straße lebt, hat Glück, hier kommt ab und an ein Tanklastzug vorbei, der bereitgestellte Kanister befüllt.
Und es kommen Touristen. Sie kamen zumindest, bevor Corona auch in Madagaskar den Tourismus lahmlegte. In diesem Jahr dürfte sich die Situation verschärfen: In manchen Regionen leben ganze Gemeinden davon, Touristen durchs Land zu führen. Die Guides klopfen jetzt bei ihren ehemaligen Reisegruppen an, bitten um Spenden: Mit 50 Dollar könne ein Familie einen Monat überleben. Und sie hoffen, dass eines Tages die Touristen wieder kommen. Die Situation der Ärmsten dürfte sich dann nicht verbessert haben. Die Guides werden ihre Gäste wieder bitten, leere Einwegflaschen im Hotel mit Leitungswasser zu füllen. Wasser, das die Touristen wegen der schlechten Hygiene-Bedingungen besser nicht zum Zähneputzen verwenden, geschweige denn trinken sollten.
Kommt das Geld bei den Armen an?
Wer in ein Land wie Madagaskar reist, weiß um die extreme Armut. In jedem Reiseführer steht es: Mehr als drei Viertel der Bevölkerung leben in extremer Armut, das jährliche Bruttonationaleinkommen beträgt 400 Dollar pro Kopf. Und trotzdem möchte man in solche Länder reisen. Will ihre Landschaft bestaunen, den Dampf des Regenwaldes einatmen, im Dschungel nach Lemuren Ausschau halten.
Für viele arme Länder ist der Tourismus wichtig, er bringt wirtschaftliche Entwicklung. Das sieht auch Antje Monshausen, Referentin für Tourismus und Entwicklung bei „Brot für die Welt“ so. Allerdings macht sie eine Einschränkung: „Auch wenn Touristen generell Geld ins Land bringen, ist es eine andere Frage, ob das auch wirklich bei den Armen ankommt.“ Denn der „Trickle-down-Effekt“, dass also das Geld durch die Schichten hinunterrinnt und schließlich auch die Armen erreicht, wird zwar oft beschworen, hat aber seine Grenzen.
Eine Studie des Bundesverbands der Deutschen Tourismuswirtschaft aus dem Jahr 2012 – aktuellere Zahlen gibt es nicht – schürt aber die Hoffnung, dass der Tourismus den Zielländern hilft: Jährlich reisen demnach 11,2 Millionen Touristen aus Deutschland in Entwicklungs- und Schwellenländer. Jeder Tourist gibt dabei im Zielland etwas mehr als 1200 Euro aus, wovon gut die Hälfte einen direkten Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt leistet. Laut der Studie schaffen deutsche Touristen Jobs für rund 738 000 Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Außerdem steige der Alphabetisierungsgrad, die politische Teilhabe verbessere sich, es gebe besseren Zugang zu Wasser und Strom.
Um den inneren Widerspruch für den Reisenden etwas aufzulösen, gibt es inzwischen Veranstalter wie G-Adventures, die sich nachhaltigen Tourismus auf die Fahnen geschrieben haben. Sie wollen den Menschen vor Ort helfen. „Wir glauben, dass es wichtig ist, bedürftige Gemeinschaften zu unterstützen und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Kultur und Geschichte mit Reisenden zu teilen“, schreibt eine Unternehmenssprecherin. Damit das Geld der Touristen auch bei den Einheimischen ankommt, setzt G-Adventures zum Beispiel auf von Einheimischen geführte Unterkünfte und Restaurants. Der Grat, dass interessierter Tourismus nicht zum Voyeurismus wird, ist aber auch für G-Adventures schmal: Immer wieder etwa gab es Diskussionen über Touren durch die Favelas in Rio de Janeiro.
Auch Tui, Deutschlands größter Pauschalreiseanbieter, organisiert auf seinen Rundreisen beispielsweise Ausflüge in Townships in Südafrika. Eine Begegnung mit den Einheimischen finde „immer auf Augenhöhe“ statt, heißt es vom Unternehmen. Außerdem setze sich eine unternehmenseigene Organisation für Bildung und die Stärkung von Sozialstandards in den Urlaubsländern ein.
Doch wie soll man damit umgehen, wenn man im Urlaubsland mit der extremen Armut der Bevölkerung konfrontiert wird? Auf die üblichen Fragen hat Antje Monshausen wenig überraschende Antworten: Soll man Bettlern etwas geben? Kommt drauf an, wenn es allgemein üblich ist – warum nicht? Und bettelnden Kindern? Auf keinen Fall!
Das Beispiel der um Wasser bettelnden Kinder auf Madagaskar macht sie kurz sprachlos. Aber auch hier findet sie: Wir hätten besser keine Flaschen aus dem Bus gereicht. „Die Kinder können nicht in die Schule, wenn sie den ganzen Tag um Wasser betteln, und der Straßenrand ist kein sicherer Ort für sie“, erklärt Monshausen. Nicht nur laufen sie dort Gefahr, von vorbeifahrenden Fahrzeugen verletzt zu werden, sie werden auch ihres Rechts auf Bildung beraubt, indem sie zur Wasserbeschaffung eingesetzt werden. Zudem sind sie gefährdet, von Vorbeifahrenden sexuell ausgebeutet zu werden. „Kindern am Straßenrand Wasser zu geben, ist entwürdigend, hochdramatisch und gefährlich“, fasst Monshausen zusammen.
Abends am Hotelpool fühlt sich das anders an: Unsere Reisegruppe diskutiert – wir sind entsetzt über die Zustände und überlegen, ob wir noch mehr Wasser hätten mitbringen sollen. Der kühle Pool, der nach dem heißen Tag erfrischen sollte, fühlt sich falsch an. Wir beginnen zu rechnen, wie viele Menschen wohl mit dem Wasser aus dem Becken versorgt werden könnten.
Aber warum trifft uns die Armut im Urlaub so sehr? Eigentlich sind wir ja ständig damit konfrontiert – in jeder Nachrichtensendung sehen wir Notleidende. „Im Urlaub sind wir auf Entspannung programmiert“, erklärt Beate Weingardt, Psychologin aus Tübingen. Mit der harten Realität der Einheimischen konfrontiert zu werden, fällt dann besonders schwer. Hinzu komme, dass wir uns im Urlaub in einer Art Luxussituation befänden – auch oder gerade, wenn man darauf gespart hat. „Wir können uns mit dem, was wir übrig haben, Urlaub leisten, und die Menschen dort haben nicht mal das Nötigste“, so Weingardt. Dieser Kontrast sei kaum auszublenden und halte uns in unserem relativen Luxus den Spiegel vor.
Nicht fahren, sei aber auch keine Lösung, meint Weingardt. Wir könnten ja nichts dafür, auf der wohlhabenden Hälfte der Erdkugel geboren worden zu sein. Aber sie hält es für ein gutes Zeichen, wenn man sich diese Frage stellt: „Wohl dem, der noch ein schlechtes Gewissen haben kann.“ Denn es geht auch anders: Man vermeidet die Konfrontation gleich ganz und verbringt seine freien Tage in einer Art Ghetto – im All-Inclusive-Club zum Beispiel. Kontakt zu den Einheimischen findet da kaum statt. Ausflüge ins Land werden von Reiseleitern organisiert, die den Kontakt genau dosieren.
Sollte man dann überhaupt in diese Länder fahren? Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Und wenn er es tut, sich seines Handelns vor Ort sehr bewusst sein. Die bloße Anwesenheit hat Einfluss auf die Einheimischen und in einem gewissen Rahmen kann man steuern, wie positiv dieser Einfluss ausfallen wird: Bucht man den Pauschalurlaub im Hotelkomplex einer internationalen Kette, wird weniger Geld im Land bleiben, als wenn man umherreist und vor Ort nach kleinen Pensionen sucht. Wer nur im Hotel isst, macht vielleicht dessen Manager reich, aber wer auf dem Markt einkauft, an Garbuden isst und Restaurants ausprobiert, verteilt seinen Reichtum zumindest ein wenig.
Auch wer helfen will, muss sich die Folgen seines Handelns vor Augen führen – und seine Motivation. In Madagaskar besucht unsere Gruppe auch ein Dorf samt Schule. Es sind gerade Ferien. Zuvor wird gefragt, ob man etwas mitbringen könne: Hefte und Stifte seien gern gesehen, die könnten wir im Klassenraum lassen, der Lehrer werde das verteilen, erklärt unser Reiseleiter. Doch eine Mitreisende ist nicht einverstanden: „Ich möchte den Kindern nichts für die Schule geben, sondern lieber Spielzeug.“ Auch die anonyme Übergabe gefällt ihr nicht: „Ich möchte es den Kindern selbst geben und sehen, wie sie sich freuen“, erklärt sie.
Verständlich, findet Psychologin Weingardt. Aber: „In solchen Situationen geht es mehr darum, sich selbst gut – oder zumindest nicht schlecht – zu fühlen.“ Eine Motivation, die dem Helfen oft zugrundeliegt. Aber sie sollte nicht die einzige sein, es sollte auch ums Helfen selbst
gehen.
Am Ende entscheidet sich unsere Reisegruppe, der Organisation vor Ort ein großzügiges Trinkgeld zu überreichen. Mit den Geldern, die sie bisher eingenommen haben, sei ein neuer Klassenraum entstanden. Wir hoffen, dass wir vielleicht einen kleinen Beitrag zu einem weiteren Gebäude geleistet haben.
September 12, 2020 at 08:00AM
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Tourismus: Urlaub mit Gewissensbissen - Heidenheimer Zeitung
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