Es geht wieder los. Jeden Tag kommen Eltern mit ihren kleinen Kindern auf die Station von Johannes Liese, weil die Kinder nicht mehr gut Luft bekommen. Liese leitet die Infektiologie und Immunologie am Uniklinikum Würzburg. Zurzeit haben er und seine Mitarbeitenden noch mehr zu tun als sonst. Nicht wegen Corona, sondern wegen eines anderen Virus: dem Respiratorischen Synzytialvirus, kurz RSV. "Wir nehmen täglich vier bis fünf Kinder mit einer Lungenentzündung oder Bronchitis durch RSV auf", sagt Liese. Die Kinder bleiben im Schnitt drei bis sieben Tage, bis sie entlassen werden können. "Langsam kommen wir mit den Betten an unsere Grenzen."
So oder ähnlich sieht es derzeit in vielen deutschen Kinderkliniken aus. In seinem aktuellen Wochenbericht meldet das Robert Koch-Institut (RKI) eine starke Zunahme der RSV-Infektionen bei Kleinkindern, die vermehrt zu Arztbesuchen und Krankenhauseinweisungen führen. Bei Kindern unter fünf Jahren mit einem schweren Atemwegsinfekt lag der Anteil der RSV-Diagnosen vergangene Woche demnach bei 58 Prozent. In den kommenden Wochen sei mit weiter steigenden Zahlen zu rechnen, schreibt das RKI.
Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytialvirus bringen Kinderkliniken regelmäßig ans Limit – und können Eltern Angst machen. RSV-Infektionen sind der häufigste Grund, warum Kinder vor dem ersten Geburtstag ins Krankenhaus aufgenommen werden müssen. Zwar stecken sich in den ersten beiden Lebensjahren alle Kinder mit dem Virus an und für die meisten ist es bloß eine Erkältung. Doch manchmal befällt das Virus den unteren Atemtrakt, also die Lunge oder die Bronchioli, die kleinsten Atemwege. "Insbesondere bei jungen Säuglingen sind diese noch so eng, dass die Kinder, wenn die Bronchioli zuschwellen, Atemnot entwickeln und ohne ärztliche Hilfe nicht mehr genug Sauerstoff bekommen", sagt Friedrich Reichert, Kinderinfektiologe und Ärztlicher Leiter der Kindernotaufnahme am Klinikum Stuttgart. Typisch ist eine beschleunigte und angestrengte Atmung, oft auch ein pfeifendes Geräusch beim Ausatmen. Vor allem Frühgeborene haben zudem manchmal Atemaussetzer. Den Kindern geht es schlecht, oft trinken sie nicht mehr gut und sind zunehmend erschöpft.
Bisher gibt es keine ursächliche Therapie
"Bei den meisten Kindern reicht es, Sauerstoff über eine Nasenbrille zu geben, bis sie sich nach ein paar Tagen erholen", sagt Johannes Liese. Doch vor allem Frühgeborene, Kinder mit Lungenfehlbildungen oder angeborenem Herzfehler haben ein erhöhtes Risiko, invasiv beatmet werden zu müssen. Etwa fünf Prozent der hospitalisierten Kinder mit einem Herzfehler sterben sogar an RSV, unter hospitalisierten Kindern ohne Risikofaktoren sind es etwa 0,2 Prozent. Weil sich fast alle Kinder in den ersten Lebensjahren damit infizieren, ist RSV jedes Jahr verantwortlich für eine immense Krankheitslast.
Und die Krankheitslast in westlichen Ländern macht nur einen Bruchteil der globalen Folgen aus. Weltweit starben 2019 schätzungsweise etwa 100.000 Kinder unter fünf Jahren an einer RSV-Infektion (The Lancet: Li et al., 2022). Für Kinder im ersten Lebensjahr ist das Virus wahrscheinlich der größte Killer nach Malaria. Und viele Kinder, die in einer Klinik behandelt werden müssen, haben nach einer Infektion noch Jahre mit Lungenproblemen zu kämpfen.
Das Problem: Bisher gibt es keine Behandlung, die die Ursache von RSV bekämpfen kann. Ist ein Kind infiziert, können Ärztinnen nur unterstützend therapieren, bis sich die Lunge von alleine erholt. Zwar existiert ein Mittel zur prophylaktischen Anwendung, also zur Vorbeugung einer Infektion. Aber diese Prophylaxe ist teuer und steht nur für Risikokinder zur Verfügung. Eine wirksame Prävention für alle Kinder gibt es bisher nicht. Doch nun kommt erstmals seit vielen Jahren Hoffnung auf, dass sich das endlich ändern könnte. Zwei Entwicklungen könnten künftig dabei helfen, der Krankheit ihren Schrecken zu nehmen.
Diese Entwicklungen sind seit Jahrzehnten das Bedeutendste, was auf dem Feld der RSV-Forschung passiert ist.
Einerseits hat die EU-Kommission gerade einen monoklonalen Antikörper zugelassen, der Kinder schützen kann, die vor ihrer ersten RSV-Saison stehen. Außerdem könnte bald der erste Impfstoff gegen RSV zugelassen werden. Den würde dann nicht das Neugeborene bekommen, sondern die Mutter schon während der Schwangerschaft – um die gebildeten Antikörper an ihr Kind weiterzugeben. Noch gibt es keine offiziellen Daten, doch laut Hersteller Pfizer kann das Mittel das Risiko für schwere RSV-Infektionen der unteren Atemwege in den ersten Lebensmonaten deutlich senken. "Diese beiden neuen Entwicklungen sind seit Jahrzehnten das Bedeutendste, was auf dem Feld der RSV-Forschung passiert ist", sagt Friedrich Reichert.
Hochrisikokinder bekommen im Winter alle vier Wochen eine Spritze
Seit das RS-Virus 1957 entdeckt wurde, haben Forscher vergeblich versucht, einen Impfstoff dagegen zu entwickeln. In den Sechzigerjahren kam es sogar zu einer Tragödie, als Kinder in den USA im Rahmen einer Studie einen Impfstoffkandidaten verabreicht bekamen, der das inaktivierte RS-Virus enthielt. Kinder, die sich trotz Impfung im folgenden Winter erstmalig mit RSV infizierten, erkrankten sogar schwerer als ungeimpfte. Zwei Kinder starben sogar an der Infektion (American Journal of Epidemiology: Kim et al., 1969).
Dieser Rückschlag lähmte die Forschung für lange Zeit und Forschende suchten nach der Ursache. Heute geht man davon aus, dass die Kinder große Mengen nicht funktionaler Antikörper bildeten und eine Kettenreaktion dazu führte, dass die Atemwege geschädigt wurden (Cell: Ruckwardt et al., 2019). Doch da der Mechanismus noch immer nicht komplett verstanden ist, konzentrierte sich die Forschung fortan darauf, sehr junge Kinder im ersten halben Lebensjahr lieber durch eine passive Immunität zu schützen, also entweder durch die Gabe von Antikörpern oder indirekt durch eine Impfung der Mutter.
Kinder, die ein besonders hohes Risiko haben, an einer RSV-Infektion zu sterben, können seit 1998 den monoklonalen Antikörper Palivizumab (Handelsname Synagis) gespritzt bekommen, der einer Infektion vorbeugen soll. Diese Passivimpfung richtet sich gegen das Fusionsprotein F des Virus, mit dem es in die menschlichen Zellen eindringt. Besonders wichtig ist diese Prophylaxe für Frühgeborene sowie Kinder mit Lungenfehlbildungen oder angeborenen Herzfehlern. Für sie kann Palivizumab das Risiko senken, wegen RSV ins Krankenhaus zu müssen. In normalen RSV-Saisons bekommen die Kinder die erste Spritze Anfang November und dann alle vier Wochen eine, insgesamt fünf. Aber gerade nach der ersten Dosis reichen die Antikörper häufig noch nicht aus, manche Kinder müssen dann mit einer Durchbruchinfektion trotzdem in der Klinik behandelt werden. Neben der aufwendigen Behandlung ist das Mittel auch sehr teuer. "Eine Injektion kostet je nach Körpergewicht in der Größenordnung von 500 bis 700 Euro", sagt Reichert. In Deutschland übernimmt die Kasse diese Kosten. Aber eben nur bei Risikopatienten. Für die allermeisten Kinder, geschweige denn Kinder in ärmeren Ländern, kommt die Prophylaxe also nicht infrage.
Die Lage könnte sich aber nun ändern – dank eines vielversprechenden Fortschritts in der Wissenschaft: In einer wegweisenden Studie beschrieben Forschende aus den USA 2013 die Struktur des F-Proteins des RS-Virus, und zwar bevor und nachdem es an die Körperzellen bindet (Science: McLellan et al.). Denn in diesem Moment ändert das Protein seine Gestalt. Frühere Impfstoffkandidaten setzten darauf, Antikörper gegen das Protein im Zustand nach dieser Bindung hervorzurufen. Dabei regt die Struktur vor dem Verschmelzen das Immunsystem deutlich stärker an. Die Antikörper gegen diese Form sind also schlagkräftiger. Dieses Wissen konnte man sich nun zunutze machen.
Ein Impfstoff für Kinder – aber die Schwangere bekommt ihn
Ein neu zugelassener monoklonaler Antikörper gegen RSV kann das Virus etwa 50-mal stärker neutralisieren als der bisherige. Das Präparat namens Nirsevimab hat zudem den großen Vorteil, dass es nur einmal zu Beginn der RSV-Saison verabreicht werden muss. In einer Studie mit fast 1.500 Kindern reduzierte Nirsevimab das Risiko gesunder Kinder um etwa 70 Prozent, während ihrer ersten RSV-Saison so stark zu erkranken, dass sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen mussten (NEJM: Hammitt et al., 2022). Zuvor hatte eine andere Studie bereits die Wirksamkeit bei Frühgeborenen belegt, die zwischen der begonnenen 30. und der vollendeten 35. Schwangerschaftswoche geboren wurden (NEJM: Griffin et al., 2020).
Dass der neue Antikörper länger wirkt und sogar bei gesunden Kindern einen Unterschied machen kann, halten Fachleute für einen großen Fortschritt. "Ob wir damit aber in einen Bereich kommen, wo man diskutieren kann, das Mittel allen Neugeborenen zu geben, lässt sich aufgrund der begrenzten Daten und Informationen noch nicht sagen", sagt Johannes Liese. Genau das möchte der Hersteller, wie die Firma Sanofi auf Anfrage mitteilt: "Unser Bestreben ist es, allen Säuglingen eine RSV-Prophylaxe für ihre erste RSV-Saison anbieten zu können." Die Markteinführung sei für die RSV-Saison 2023/24 geplant.
Doch noch sind eben einige Fragen offen. Zum Beispiel, wie gut Nirsevimab es tatsächlich schafft, Klinikaufenthalte zu verhindern. Zumindest in der Studie bei reif oder nur geringfügig zu früh geborenen Kindern gelang es bisher nicht, das statistisch zu belegen. Das liegt auch daran, dass in Südafrika, wo ein Teil der Studie stattfand, aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen so gut wie keine RSV-Infektionen auftraten. Außerdem, gibt Liese zu bedenken, seien bisher keine Informationen zur Verfügbarkeit und zum Preis von Nirsevimab bekannt.
Diese Aspekte aber haben Fachleute im Blick, wenn sie beurteilen müssen, wem sie den Antikörper empfehlen: Wie viele gesunde Kinder müssen das Mittel bekommen, damit eine Klinikeinweisung verhindert wird? Damit wird auch zusammenhängen, welchen Preis die Hersteller aufrufen werden. Empfehlen es nationale Behörden allen Kindern, muss es preiswerter sein, als wenn sie es nur Risikogruppen empfehlen.
Der erste Impfstoff gegen RSV scheint in Reichweite
Die zweite bedeutende Entwicklung ist ein Impfstoff, der das F-Protein des Virus enthält. Das Besondere: Nicht das Kind bekommt ihn, sondern die Schwangere. In einer Studie des Herstellers Pfizer erhielten etwa 7.400 Frauen während des späten zweiten oder im dritten Schwangerschaftsdrittel entweder eine Dosis des Impfstoffs oder ein Placebo. Die Frauen, die den Impfstoff erhalten hatten, entwickelten Antikörper und gaben sie über die Plazenta und die Nabelschnur an das Ungeborene weiter. Auf diese Weise kann ein Baby schon ab der Geburt von dem sogenannten Nestschutz profitieren.
Nach Angaben von Pfizer hatte dieser Impfstoff in den ersten 90 Lebenstagen der Kinder eine Wirksamkeit von 81,8 Prozent gegen eine schwere Erkrankung der unteren Atemwege, die medizinische Versorgung erforderte. Innerhalb der ersten sechs Monate lag die Wirksamkeit demnach noch bei etwa 70 Prozent. Auf Nachfrage teilt Pfizer mit, zu den Zeichen schwerer Erkrankung zählten sehr schnelle Atmung, ein sehr geringer Sauerstoffgehalt im Blut, Behandlung auf einer Intensivstation und Bewusstlosigkeit aufgrund der RSV-Erkrankung.
Sicherheitsbedenken gebe es anhand der vorliegenden Daten weder für Schwangere noch für die Neugeborenen. Bisher hat Pfizer allerdings nur eine ausführliche Pressemitteilung veröffentlicht, eine Publikation in einem Fachjournal sei geplant. Bis Ende des Jahres will der Hersteller die Zulassung in den USA beantragen, danach in Europa.
Ein möglicher Meilenstein in der Kinderheilkunde
"Die Ankündigungen von Pfizer zur maternalen RSV-Impfung klingen vielversprechend", sagt Johannes Liese aus Würzburg. Dennoch müsse man erst die Originaldaten sehen: "Wie genau ist die Wirksamkeit bezogen auf Klinikaufenthalte? Wie ist der Effekt in einzelnen Subgruppen?" Auch Friedrich Reichert ist angesichts der Zahlen hoffnungsfroh, rät aber ebenfalls zur Vorsicht. Man müsse etwa wissen, auf wie vielen Fällen die Wirksamkeit beruhe, wie stabil die Daten seien. In weiteren Untersuchungen müsse auch geklärt werden, wie lange die Schutzwirkung anhält und welchen Einfluss eine verkürzte Schwangerschaft hat. Schließlich beginne der Antikörpertransfer auf den Fetus erst etwa ab der 33. Schwangerschaftswoche. Dennoch, das sagen sowohl Reichert als auch Liese: Sollten sich die Daten bestätigen, könnte dies ein Meilenstein in der Kinderheilkunde werden.
Dabei ist das Prinzip der mütterlichen Impfung nicht neu. Mütter geben über die Plazenta von Natur aus allerhand Antikörper an den Fetus weiter, die dessen noch unreifes Immunsystem direkt nach der Geburt unterstützen. Die maternale Impfung imitiert die Natur und ist ein eleganter Weg, Kinder ab der Geburt vor Krankheitserregern zu schützen, die sehr junge Säuglinge besonders gefährden. So empfiehlt die Stiko Schwangeren etwa die einmalige Impfung gegen Keuchhusten im letzten Trimenon. Und auch die Impfung gegen Influenza, die jeder Schwangeren seit 2010 dringend empfohlen wird, dient nicht nur dem Schutz der Mutter selbst, sondern auch dem des Neugeborenen.
"Die maternale Impfung ist ein sehr gutes Präventionskonzept", sagt Liese. Umso enttäuschender sei es für ihn, dass die bisherigen mütterlichen Impfungen kaum angenommen werden. Die bundesweite Influenza-Impfquote unter Schwangeren etwa lag in der Saison 2020/21 bei nur 23 Prozent. "Wir haben in Deutschland bisher keine gute Tradition für das Impfen in der Schwangerschaft", sagt Liese. Zu wenige Frauenärztinnen und Frauenärzte hätten das auf dem Schirm.
Ziel müsse es sein, sagt Liese, dass ein wirksamer Impfstoff allen Kindern beziehungsweise deren Müttern zur Verfügung stünde. Schließlich könne man ja viele Risikofaktoren nicht vorhersagen, etwa ob ein Kind zu früh geboren wird. Sollte der Impfstoff zugelassen werden, entscheiden letztlich auch Expertenkommissionen über ihren Einsatz, wie etwa in Deutschland die Ständige Impfkommission (Stiko). Der Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens ließ zuletzt gegenüber dem Science Media Center anklingen, dass ein RSV-Impfstoff das Risiko eines Krankenhausaufenthalts deutlich verringern müsste, damit er empfohlen wird.
"Mein Traum wäre eine 'Schütz-dein-Neugeborenes-Impfung' für Schwangere, eine Kombination aus RSV, Grippe, Covid-19 und Keuchhusten", sagt Reichert. Damit könne jedes Jahr sehr viel Leid verhindert werden, in Deutschland und erst recht weltweit. Möglich sei je nach Risikoprofil auch eine Kombination von mütterlicher Impfung und den monoklonalen Antikörpern. Etwa bei Frühgeborenen, die zu wenige Antikörper von der Mutter bekommen, auch wenn diese sich impfen lässt. Natürlich müsse man aber zunächst auf weitere Daten warten. Er rechne nicht damit, dass der Impfstoff schon nächstes oder übernächstes Jahr breit eingesetzt wird. "Aber allein zu wissen, dass sich im Kampf gegen RSV nach all der Zeit endlich etwas bewegt, ist toll."
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