Gegen die Nato-Aufrüstung, den Irak-Krieg oder den Treibhausgasausstoß formierten sich schon weit größere Protestzüge, als sie derzeit gegen die Corona-Politik stattfinden. Doch noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik gab es weitflächigere Demonstrationen als in diesen Wochen. Das Bundesinnenministerium (BMI) zählte allein für den vorletzten Montag bundesweit 1046 Protestaktionen mit insgesamt 188.000 Teilnehmern.
Für weitere Pandemie-Protesttage gibt es keine offiziellen Angaben für die gesamte Republik, doch beispielsweise das besonders betroffene Land Baden-Württemberg teilte mit, dass dort am Montag dieser Woche an 326 Orten ungefähr 64.700 Personen an Versammlungen teilnahmen.
Piotr Kocyba vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung sagt WELT: „Ähnlich breit in die Fläche gehende Demonstrationen wie derzeit hatten wir in der Vergangenheit noch nicht, aber die von Schülern organisierten Fridays-for-Future-Proteste haben auch schon bundesweit an Hunderten Orten gleichzeitig Menschen auf die Straße gebracht. Die immense Breite der Corona-Proteste ist gleichzeitig beeindruckend, aber auch bedrückend.“
Laut dem Protestforscher spielt „die äußerste Rechte in Sachsen und anderen ostdeutschen Bundesländern eine große Rolle bei der Organisation der Corona-Demonstrationen“. Bundesweit seien „‚Querdenker‘, Rechtsextreme und AfD die treibenden Kräfte, aber eben auch unpolitische Bürger und sogar einige Linke sind dabei“. In der Breite habe sich „die Linke oder äußerste Linke aber nicht gegen die Corona-Politik positioniert, wohl weil das Ideal der Solidarität mit gefährdeten Gruppen über die Werte der Autonomie und Selbstbestimmung gegenüber dem Staat gestellt wurde“.
Auffällig ist laut Kocyba, dass viele Bürger ohne Demonstrationserfahrung mitliefen. „Das zeigt sich am Umgang mit der Polizei – viele Teilnehmer sind sehr überrascht, wie rabiat die Polizei teilweise zur Sache gehen kann, wenn sie Versammlungen auflösen muss.“ Leider würden „tatsächliche oder vermeintliche Gewalterfahrungen mit der Polizei dazu benutzt, die Eigenwahrnehmung des friedlichen Märtyrers gegen die grundrechtsfeindliche Staatsgewalt zu festigen“.
Der Demonstrationsforscher sagt: „Ich habe die große Breite der Proteste bis in die kleinsten Ortschaften hinein zwar nicht erwartet, sie haben mich aber auch nicht überrascht, weil ich die Proteststimmung hier in Sachsen seit Jahren beobachte.“ Baden-Württemberg sei von Anfang an „ein Hauptzentrum der Proteste, dort haben die immer weiter nach Rechtsaußen gewanderten ‚Querdenker‘ ihre Ursprünge. Mit den Anthroposophen und ähnlichen Gruppen gibt es im Südwesten ein großes Mobilisierungspotenzial.“
Faeser und ihr Appell, sich nicht nicht zu versammeln
Das Bundesinnenministerium antwortet auf WELT-Anfrage, ob es schon Tage in der Geschichte der Bundesrepublik mit Protestaktionen an mehr als 1000 Orten gab, dass eine solche Statistik „beim BMI nicht erfasst“ werde. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) verlieh ihrer Sorge über die ständigen, wohl bewusst weit verstreuten Proteste am Mittwoch erneut Ausdruck. „Ich wiederhole meinen Appell: Man kann seine Meinung auch kundtun, ohne sich gleichzeitig an vielen Orten zu versammeln.“
Dies stieß auf viel Kritik, die Berliner AfD entgegnete der Ministerin etwa, indem sie Artikel 8 des Grundgesetzes zitierte: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“
Allerdings heißt es in diesem Artikel in Absatz 2: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“ Zwar hat die Bundesregierung bisher nicht die Versammlungsfreiheit für Gegner ihrer Corona-Politik gesetzlich aufgehoben, doch viele Kommunen behelfen sich beispielsweise mit Allgemeinverfügungen gegen die oft nicht angemeldeten „Spaziergänge“, wie es die Teilnehmer nennen.
Weil bei den unzähligen, häufig über Kommunikationsplattformen wie Telegram abgesprochenen Demonstrationen die Gebote der Corona-Verordnungen regelmäßig missachtet werden, kommt die Polizei kaum noch bei der Überwachung hinterher. Obwohl in vielen Städten die unangemeldeten „Spaziergänge“ verboten sind, werden sie meist nicht aufgelöst.
Die beiden bis zur Corona-Krise breitflächigsten Demonstrationen gingen von der Klimabewegung aus. Am 20. September 2019 rief Fridays for Future nach eigenen Angaben in 575 deutschen Städten zu Protesten auf. Am 24. September 2021, dem Freitag vor der Bundestagswahl, waren es laut der Organisation demnach 470 Aktionen.
Eine ähnliche Verbreitung über das Bundesgebiet an einem einzigen Tag war vorher weder der Anti-Atomkraft-Bewegung oder den Hartz-IV-Gegnern noch einer anderen Bewegung gelungen. Bei dem Fridays-for-Future-Protest herrschte freilich die Sonderbedingung, dass schulpflichtige Jugendliche de facto für einen Tag schulfrei bekamen, falls sie gegen Treibhausgasausstoß demonstrieren wollten. Es gab dazu zwar keine Gesetze oder Erlasse, doch zahlreiche wohlwollende Äußerungen von Regierungspolitikern bis hin zur damaligen Kanzlerin Angela Merkel (CDU).
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