Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee hat, obwohl er der SPD angehört, schon häufig Visionen verbreitet. Als er noch Leipziger Oberbürgermeister war, wollte er die Olympischen Spiele in die Messestadt holen. Als Bundesverkehrsminister die Bahn privatisieren. Am Dienstag nun trat Tiefensee, der auch Vizeministerpräsident des Freistaats ist, nach der Kabinettssitzung in Erfurt vor die Medien und sagte, dass Thüringen künftig „vielleicht eine Blaupause, ein Vorbild für das werden könnte, was auch in anderen Bundesländern bald an der Tagesordnung sein könnte, wenn es unklare Mehrheitsverhältnisse gibt“.
Tatsächlich hat man sich in der Thüringer Landespolitik in den vergangenen anderthalb Jahren viel vorstellen müssen, nur eines gehörte garantiert nicht dazu: dass das, was in Erfurt passiert, auch nur annähernd so etwas wie ein Vorbild sein könnte. Die lange propagierte, aber dann am Freitag in letzter Minute abgesagte Neuwahl war da nur das jüngste aus einer Reihe von Negativereignissen.
Nach Lage der Dinge werden Linke, SPD und Grüne nun weitere drei Jahre ohne Mehrheit den Freistaat regieren müssen – und das künftig unter verschärften Bedingungen, da die CDU ihre Kooperation mit Rot-Rot-Grün mit der kommenden Woche beginnenden Sommerpause für beendet erklärte. Eine dauerhafte Minderheitsregierung ohne festen Tolerierungspartner gab es seit Kriegsende noch nie in Deutschland, und am Dienstag versicherten die Koalitionäre, dass dafür nun aber wirklich alles anders werden müsse. Es sei „höchste Zeit, ein konstruktives, sachorientiertes und auch streitiges Miteinander“ zu finden für „ein Politikmodell, das das Land voranbringt“, sagte Tiefensee in Richtung Landtag.
„Da hat er gekniffen“
Man werde jetzt „verloren gegangenes Vertrauen durch gute Sacharbeit zurückgewinnen“, erklärte Umweltministerin Anja Siegesmund (Grüne). Und Ministerpräsident Bodo Ramelow gab sich zuversichtlich: „Wir sind darauf angewiesen, Mehrheit im Parlament zu suchen, und ich gehe davon aus, dass wir sie finden werden. Wir sind als Regierung weiterhin handlungsfähig.“
Vier Stimmen fehlen der Koalition, die sie künftig entweder bei der FDP, die bisher fünf Abgeordnete hatte, oder unter den 21 Abgeordneten der CDU-Fraktion suchen muss. Ums Stimmenzählen wiederum könnte es bereits am Freitag gehen, sofern dann das von der AfD-Fraktion beantragte konstruktive Misstrauensvotum gegen Ramelow behandelt werden sollte. Ob der Antrag noch auf die Tagesordnung der aktuellen Sitzung kommt, entscheiden die Abgeordneten an diesem Mittwoch. In Erfurt ging man am Dienstag davon aus, da anderenfalls ein Sonderplenum in der kommenden Woche nötig wäre. Die AfD lässt ihren Fraktionschef Björn Höcke, der vom Verfassungsschutz als Rechtsextremist beobachtet wird, gegen den Ministerpräsidenten antreten. Höcke brauchte jedoch 46 Stimmen, um erfolgreich zu sein. Die Fraktion selbst verfügt über 22 Abgeordnete.
Ramelow, der der Linkspartei angehört, reagierte darauf am Dienstag gelassen. Es stehe der Opposition und damit auch der AfD zu, nach Artikel 73 der Thüringer Verfassung einen solchen Antrag zu stellen. Höcke hätte aber bereits im vergangenen März im dritten Wahlgang gegen ihn antreten können, sagte er. „Da hat er gekniffen.“ Er gehe davon aus, dass das Parlament souverän damit umgehen werde. Inzwischen haben auch FDP und CDU versichert, sich am „fadenscheinigen Polit-Theater“ und „den durchschaubaren Spielen mit der Verfassung“ der AfD nicht zu beteiligen. Darüber hinaus lehnte es Ramelow anders als ursprünglich angekündigt ab, selber im Landtag die Vertrauensfrage zu stellen, um Neuwahlen zu ermöglichen.
Er begründete das mit der Thüringer Verfassung, die nach einer verlorenen Vertrauensfrage die Wahl eines neuen Regierungschefs vorsieht, die von jeder Fraktion beantragt werden kann. Das aber würde abermals drei Wahlgänge bedeuten mit der bereits bekannten Thüringer Besonderheit, dass im dritten Wahlgang der Kandidat mit den meisten Jastimmen gewinnt, ein alleiniger Bewerber praktisch also auch mit einer Jastimme gewählt wäre. Nur für den äußerst unwahrscheinlichen Fall, dass das nicht gelingt, wäre der Weg für Neuwahlen frei.
Der FDP-Fraktion wiederum droht mutmaßlich das Aus, weil die Abgeordnete Ute Bergner sich aus der Landtagsfraktion verabschieden wird. Bergner war bereits Anfang Juli aus der FDP ausgetreten, weil sie bei der ursprünglich für September geplanten Neuwahl als Spitzenkandidatin einer Partei namens „Bürger für Thüringen“ antreten wollte und Vorsitzende eines gleichnamigen Vereins ist. Auch deshalb hatte sie sich für eine Auflösung des Landtags starkgemacht und öffentlich bekundet, für einen solchen Antrag stimmen zu wollen.
Verlust des Fraktionsstatus?
Ihre vier Fraktionskollegen entschieden sich dann in der vergangenen Woche anders und erklärten, gegen eine Auflösung des Parlaments zu sein. Auch das war ausschlaggebend dafür, dass Linke und Grüne ihren Antrag auf Landtagsauflösung zurückzogen, weil sie dafür nun endgültig keine Mehrheit mehr sahen. Die „Bürger für Thüringen“ werteten das offenbar als Vertrauensbruch. Auf einem geplanten Strategie-Parteitag bei Jena kündigte Bergner am Dienstagabend an, in die Partei „Bürger für Thüringen“ ein- und aus der FDP-Fraktion auszutreten. Sie wolle künftig als Einzelabgeordnete agieren, als Brücke zwischen den Thüringern und dem Landtag agieren und von ihrem Rederecht rege Gebrauch machen.
Bergners Austritt wiederum könnte erhebliche Konsequenzen haben, verlören die Liberalen damit doch ihren Status als Fraktion, der mindestens fünf Abgeordnete angehören müssen und auch zahlreiche Privilegien wie doppelte Diät und Dienstwagen für Fraktionschef Thomas Kemmerich, vor allem aber auch längere Redezeiten oder das Recht, sich in Ausschüssen an Abstimmungen zu beteiligen. Ihre verbliebenen vier Parlamentarier wären dann ebenfalls Einzelabgeordnete. Angesichts dieser zuvor bekannten Aussichten sowie der auch in Thüringen zuletzt guten Umfragewerte für die FDP wirkt es umso unverständlicher, dass sich die Liberalen Neuwahlen verweigerten. Am Dienstag gab sich die Fraktion noch betont gelassen. „Uns liegen keine Informationen vor, dass Frau Bergner die Fraktion verlassen möchte“, erklärte ein Sprecher. Das Verhältnis zwischen der Fraktion und Bergner sei „professionell und entspannt“, sie nehme nach wie vor an allen Sitzungen teil. Das jedoch hat sich nun geändert, und Fraktionschef Kemmerich hat sich abermals selber beschädigt.
Artikel von & Weiterlesen ( Wie geht es jetzt in Thüringen weiter? - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung )https://ift.tt/3hSpeiX
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